Marcel Hirscher ist fokussiert. Trotzdem lebt er eine neue Leichtigkeit.
© Privat
Alpines Skifahren

Marcel Hirscher: „Das Beste kommt noch!“

Marcel Hirscher liebt sein Leben, baut seinem Sohn einen acht-Meter-Schneemann und sammelt täglich „Yesss-Momente“. Der erfolgreichste Skirennläufer aller Zeiten im ganz privaten Interview.
Autor: Michael Holzer
14 min readPublished on
THE RED BULLETIN: 7 Stunden, 17 Minuten, 50 Sekunden, 40 Hundertstel: Was sagt dir diese Zeit?
MARCEL HIRSCHER: (Denkt länger nach.) Ähm... sagt mir schon was, aber was...?
Alle Laufzeiten deiner 245 Rennen addiert. Die Nettozeit, um der beste Skirennläufer der Welt zu werden.
Ach so, ja genau, das war’s! Manche Statistiken und Auswertungen habe ich schon vergessen, aber die 7 Stunden, ohne Kommastellen, die habe ich mir gemerkt. Diese 7 Stunden und dass zwi­schen Debüt und Rücktritt 4554 Tage liegen. Wenn man diese beiden Zahlen gegenüberstellt, das ist schon schräg...
Der Rücktritt war, als hätte ich den Knopf ,Auf Werkseinstellung zurücksetzen‘ gedrückt .
Marcel Hirscher über seinen Ausstieg aus dem Profi-Skisport.
Inwiefern schräg?
Na ja, weil das tatsächliche Erleben über­haupt nicht mit den Zeitangaben zusam­menstimmt – 7 Stunden, nicht einmal ein voller Arbeitstag, aus einem ganzen Lebensabschnitt, der ja so intensiv war wie sieben Leben.
Marcel Hirscher brettert nicht nur auf Skiern durch den Schnee am Annaberg.

Marcel Hirscher brettert nicht nur auf Skiern durch den Schnee am Annaberg.

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Sieben Stunden, sieben Leben: Das wäre doch ein perfekter Titel, wenn dein Leben verfilmt wird.
Du meinst: Wenn meine Karriere ver­filmt wird? Ich selbst nehme das mit etwas Abstand mittlerweile anders wahr: Meine Karriere ist natürlich ein wesent­licher Teil meines Lebens, aber sie ist halt nicht der ganze Film. Weil ja jeder Tag eine neue Szene ist und laufend wieder neues, richtig geiles Material dazukommt! Die Gleichung „Leben = Karriere“, die stimmt für mich nicht. Oder: Sie stimmt für mich nicht mehr. Solange ich gefah­ren bin, war der Tunnelblick auf den Skirennsport teilweise notwendig, um den Fokus zu halten.
Die Gleichung scheint der landläufigen Vorstellung zu entsprechen, dass nach so einer großen Karriere nichts Besseres mehr nachkommen kann...
Die Vorstellung gibt’s leider wirklich. Mir hat vor Jahren einmal ein mehrfacher Weltmeister aus einer anderen Sportart, ein Deutscher, gesagt: „Junge, du musst jeden Moment deiner Karriere auskosten! Diese Zeit geht viel zu schnell vorbei, und sie kommt nie mehr zurück.“ Das hat so sentimental geklungen, dass ich mir damals gedacht habe: „Na hawedere, wenn von Goldmedaillen so viel Weh­mut übrigbleibt, dann ist vielleicht fast besser, man g’winnt erst gar keine.“
Es gibt keine Leere nach der Karriere – es gibt eine Vielfalt und eine Fülle, die mich erfüllt. Nach der ich mich gesehnt habe .
Marcel Hirscher über den Rücktritt am Höhepunkt seiner Karriere
Kannst du das heute nachempfinden? Seit 16 Monaten weißt du, wie es sich anfühlt, eine große Karriere hinter sich zu haben...
Nein, dieses Gefühl von „Shit, die beste Zeit meines Lebens ist vorbei!“ kenne ich überhaupt nicht. Mir geht’s genau um­gekehrt: Das Beste kommt noch! Das ist mein Motto, und so lebe ich jetzt auch.
Das Beste kommt noch! Ist das die Antwort auf die klassische Sportreporter-Frage, die in keinem Interview fehlen darf: Wie geht es dir in der Skipension?
Hahaha, nein, die Antwort darauf ist: Alter, ich bin gerade erst 32 geworden, ich bin nicht in Pension – und in Ski­pension schon gar nicht. Ich fang jetzt grad erst so richtig an!
In seinem Element: Marcel Hirscher beim Freeriden in Gastein.

In seinem Element: Marcel Hirscher beim Freeriden in Gastein.

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Darauf kommen wir später noch zurück. Du hast dich seit deinem Rücktritt so gut wie gar nicht öffentlich geäußert – an mangelndem Interesse liegt das ja mit Sicherheit nicht. Woran liegt es denn?
An mir. Erstens bin ich eh zehn Winter lang am Wochenende durch alle Wohn­zimmer gewedelt. Zweitens war diese Lebensumstellung natürlich ein wich­tiger Prozess für mich persönlich. Und drittens: Wenn eine so intensive Phase zu Ende geht, dann ist wichtig, sie wirklich abzuschließen, damit sich Neues ent­wickeln kann. Das geht viel besser, wenn man nicht dauernd darüber redet, wie nervös man vor dem zweiten Durchgang des WM-­Slaloms 2013 in Schladming war. So kommst nämlich gedanklich nie aus diesem Starthäusl auf der Planai raus – und das ist ja nicht Sinn und Zweck.
Wenn du diesen Prozess des Loslassens jetzt noch einmal im Superzeitraffer ablaufen lässt, was waren denn für dich dabei die entscheidenden Phasen?
Der Rücktritt selbst war, als hätte ich in meinem Leben den Knopf „Auf Werks­einstellung zurücksetzen“ gedrückt. Ich kannte bis dahin ja nichts anderes als ein fremdbestimmtes Athletenleben nach Excel-Listen. Der Brustpanzer war dann mal weg, und das hat sich angefühlt wie der erste Urlaubstag, nachdem man ewig durchgehackelt hat. Meine Herausforde­rung war überhaupt nicht, dass ich nicht gewusst hätte, was ich mit meiner Zeit sinnvoll anfangen soll. Sondern: Was will ich als Erstes tun? Denn auf einmal und zum ersten Mal hatte ich unendlich viele Möglichkeiten, mein Leben und meinen Alltag zu gestalten. Aus dieser neuen Freiheit schöpfe ich extrem viel Energie.
Marcel Hirscher genießt die Ruhe, Skifahren bedeutet jetzt Entspannung.

Marcel Hirscher genießt die Ruhe, Skifahren bedeutet jetzt Entspannung.

© Mia Maria Knoll

Hast du am Übergang zwischen dieser irren Ära als Ski-Superstar und dem neuen Leben als Privatmann auf Anhieb deine Ideallinie gefunden?
Nein, natürlich nicht. Waren schon ein paar g’scheite Einfädler auch dabei. Egal ob beim Skifahren, Motorradfahren oder von einem Lebensabschnitt zum anderen – es ist keine Schande, wenn man bei ei­nem schwierigen Übergang die Ideallinie nicht gleich trifft: umfallen, aufstehen, besser machen. Und Regel Nr. 1 berücksichtigen...
Wie lautet Regel Nr. 1?
Immer g’scheit besichtigen! (Lacht.) Entscheidend für mich war wirklich, mei­ne Karriere gedanklich zu verarbeiten, zu verbuchen, zu reflektieren, die Eindrü­cke und Erfahrungen einzuordnen. Dafür war nie Zeit. Selbständige kennen das: Es ist ja nicht so, dass man rund um die Uhr am eigenen Projekt arbeitet, aber die Birne rattert dauernd für dieses Projekt, das einem so wichtig ist. Bei mir war es genauso: Ich war überhaupt nie nicht der Skirennläufer – nicht einmal im Sommer, in der Badehose am Strand.
Super Frau, tolle Family, coole Freunde. Und mir tut nicht mal etwas weh – trotz fünfzehn Jahren Profisport.
Für Marcel Hirscher ist sein Leben keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Privileg.
Man denkt ja: Der permanente Kick, das Adrenalin, all das, was so ein Athletenleben eben ausmacht, das muss dir doch jetzt ziemlich abgehen, nicht?
Nein, wieso?! Ich habe davon jetzt mehr als früher! Ich habe viel darüber nachgedacht, was Spitzensport für mich im Kern ausmacht. Und bin draufgekommen: Heruntergebrochen sind Erfolge im Sport bestandene Bewährungsproben. Für diese „Yesss-Momente“ nimmst du vieles auf dich. Und, klar: Da war viel dabei im Skirennsport, jedes Mal mit Bestzeit ins Ziel kommen, jede Kugel, jede Medaille und Millionen winziger Meilensteine dazwischen. Der Unterschied ist: Jetzt hole ich mir meine „Yesss-Momente“ so oft und wo immer ich will. Wenn ich jetzt auf meinem Handy scrolle, ist die Galerie voller Erlebnisse und lachender Gesichter. Keine Woche verläuft so wie die andere. Und meistens sind es die Dinge, die ich für den Skisport ganz bewusst hintangestellt habe. Es gibt keine Leere nach der Karriere – es gibt eine Vielfalt und Fülle, die mich erfüllt, nach der ich mich gesehnt habe, die ich mir vor 16 Monaten aber noch gar nicht vorstellen konnte.
Klingt nach der Geschichte vom Meister, der wieder Schüler wurde...
Genau das! Zum Beispiel: Ich kann natürlich Ski fahren, ja. Aber wenn ich Freeriden gehe, bin ich in gewisser Weise trotzdem wieder Anfänger. Weil es dabei so vieles gibt, was ich noch nicht kann und noch nicht weiß. Und jedes Mal lerne ich was dazu. Von der richtigen Vorbereitung über die Einschätzung von Gefahren und Sicherheit bis zur Kurve, die ich fahren muss, damit man auf einem Video nicht nur eine riesige Schneewolke, sondern mich auch noch sieht. Oder noch ärger beim Endurofahren: Ein Grundbesitzer lässt den Hiasi Walkner und mich da auf einer wilden Leitn fahren, wo wir weder Menschen noch Wild stören. Zu Fuß kommst dort, ohne dich mit den Händen anzuhalten, überhaupt nicht rauf. Die Challenge ist, mit dem Motorradl raufzufahren. Ich fahr Motorrad, seit ich ein kleiner Bub war. Und trotzdem ist das ein völlig neues Terrain für mich: Wenn ein paar Millimeter entscheiden, ob du diese zwei, drei Stundenkilometer Schwung z’sammbringst, um wirklich raufzukommen, oder ob dein Motorradl alle paar Meter wieder im Dreck liegt. Mehr Kick und Adrenalin geht fast nicht.
Anderes Terrain: Enduro-Fahren zählt zu einer von Hirschers Leidenschaften.

Anderes Terrain: Enduro-Fahren zählt zu einer von Hirschers Leidenschaften.

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Ich trink drei Liter bei so einer Session, die mir beim Helm wieder rausrinnen. Danach bin ich physisch und psychisch komplett am Limit, aber glücklich. Ich brauche keine Weltreisen oder sonst irgendwas, ich sammle diese „Yesss-Momente“. Das ist schon das gute Leben, von dem ich immer geträumt habe: Jetzt kann ich es mir endlich verwirklichen – und das Beste kommt noch.
Einer deiner besten Freunde sagt: „Der Marcel ist ein neuer Mensch, weil er wieder ganz der Alte ist.“ Kannst du damit etwas anfangen?
Absolut! Ein wichtiger Teil meiner persönlichen Entwicklung nach dem Rücktritt war, wieder mehr der zu werden, der ich vor und am Beginn meiner Karriere gewesen bin. Eigenschaften wieder viel mehr zum Vorschein zu bringen, die in den Hintergrund getreten sind, teilweise treten mussten, die mich aber ausmachen.
Was von dem, was dich ausmacht, musste denn in den Hintergrund treten?
Hm, warte, ich such nach einem passenden Vergleich für den Skirennsport... Es muss etwas Rundes sein, wo drinnen Leute sind und rundherum auch...
Was meinst du? Ein Zirkuszelt oder so? Eine Schneekugel? Eine Gondel?
Nein, nein, eher so etwas wie ein Bühne, die sich dreht... Wart, ich hab’s gleich...
Ein Ringelspiel?
Ja! Ringelspiel ist super. So ein großes. Das ist der Skirennsport, und dort drinnen sind Verbände, Veranstalter, Werbepartner, Ausstatter, Medien, Athleten. Rundherum sind ein paar Millionen Menschen, die schauen dem Ringelspiel zu, weil es halt immer schon eine besondere Attraktion bei uns war. Okay?
Okay...
Ich bin als junger Typ von der Alm in Annaberg in dieses Ringelspiel eingestiegen und dann acht Jahre immer in der Mitte gestanden. Ich habe getan, was ich auf unserer Alm und in der Hotelfachschule gelernt habe – winken, lächeln und lie-fern. Ich wollt unbedingt alle g’scheit bedienen, gefühlt das ganze Land, den ganzen Sport. Ich habe dafür unglaublich viel bekommen, mehr, als ich jemals zu träumen gewagt hätte. Und trotzdem, so ehrlich und realistisch muss ich sein: In der Mitte dieses Ringelspiels ist auch ein bissl was von meiner Persönlichkeit liegen geblieben – Lockerheit, Leichtigkeit, Spontaneität, auch Offenheit.
Marcel Hirscher liebt es, in der Natur zu sein – hier mit seinem Hund Pumba

Marcel Hirscher liebt es, in der Natur zu sein – hier mit seinem Hund Pumba

© Thomas Ramstorfer/First Look/Picturedesk.com

Und diese Persönlichkeitsanteile sammelst du jetzt alle wieder ein? Hast du schon wieder alle Tassen im Schrank?
Das müssen andere beurteilen. Inzwischen fühle ich mich wieder viel mehr wie dieser junge Typ von der Alm: ein bissl älter, reifer, gelassener und sicher auch offener. Ich weiß zu schätzen, wie viel Glück ich im Leben habe – und ich weiß auch, dass das Allermeiste nicht mein Verdienst ist. Weil du dir die wesentlichen Dinge im Leben nicht verdienen kannst: super Frau, tolle Family, coole Freunde, geile Hobbys, keine Sorgen und, was dazukommt, mir tut nicht mal etwas weh – trotz fünfzehn Jahren Profisport.
Spontan gefragt und weil du es vorhin erwähnt hast: Wann warst du zuletzt so richtig spontan?
Ha! Unser Kleiner ist jetzt gerade ein Riesenfan von Schneemännern – je größer, desto besser. Vor zwei Wochen fällt mir am Abend ein: Heast, jetzt baue ich ihm einen richtigen Riesen in den Garten! Ich hab einen Freund aktiviert, dann sind wir zwei selbst wie kleine Buben mit Ausziehleitern und Schaufeln dort draußen rumgeturnt, bis um halb zwei in der Früh, mit der Stirnlampe auf. Aber so an die acht Meter wird er schon haben, der Mega-Schneemann!
Fährt euer Sohn eigentlich schon Ski? Er ist jetzt fast schon im selben Alter wie du auf deinen ersten Videos...
Ein bissl rumbretteln hinterm Haus tut er, aber es interessiert ihn nicht sonderlich. Er meldet sich schon, wenn’s so weit ist. Wenn nicht: auch gut.
Du wirst für den Rest deines Lebens ein Nationalheld und eine Berühmtheit sein: Überwiegt da Stolz oder Sorge?
Na ja, fürs Berühmtsein kann ich ja in dem Sinne nichts. Ich bin schon stolz, dass ich im Sport was z’sammbracht hab und dass das die Wertigkeit hat. Aber Sorge? Nein, die habe ich im Ringelspiel gelassen, als ich ausgestiegen bin. (Lacht.)
Neue Wege: Hirscher erklimmt die 40-Meter-Himmelsleiter am Donnerkogel.

Neue Wege: Hirscher erklimmt die 40-Meter-Himmelsleiter am Donnerkogel.

© Thomas Ramstorfer/First Look/Picturedesk.com

Falco hat einst gesagt: Einmal Nummer 1 in den USA reicht für drei Generationen. Für wie viele Generationen reicht’s, wenn man acht Jahre ununterbrochen die Nummer 1 der internationalen Ski-Charts war?
Das kommt auf die Inflation an. Ernst-haft: Über so etwas denke ich nicht nach. Es geht uns gut, sehr gut. Keine Geldsorgen haben zu müssen ist schon Luxus. Alles, was darüber hinausgeht, macht fürs gute Lebensgefühl nicht mehr so viel Unterschied, jedenfalls nicht bei uns.
In Zeiten einer Pandemie und angesichts von viel allgemeiner Unsicherheit hat der wohlverdiente Wohlstand sicher noch einmal eine ganz andere Wertigkeit, oder?
Ja. Mir ist bewusst, wie privilegiert ich bin, eigentlich darf ich da überhaupt nicht mitreden! Ich wohne nicht mit zwei Kindern im Homeschooling auf 50 Quadratmetern mitten in einer Stadt. Ich bin nicht auf Kurzarbeit, ich habe keine Jobsorgen. Diese Menschen muss man fragen, was die Corona-Krise ist, nicht mich. Ich hab Platz, ich kann raus, bei mir sind alle gesund. Das ist alles nicht selbstverständlich – dessen bin ich mir sehr bewusst.
Du sagst ja, du bist nicht in Pension. Wie schaut denn dein Job-Alltag aus?
Die Partnerschaften mit Red Bull, Audi, Raiffeisen und Atomic haben eine neue Qualität, seit es nicht mehr um Spitzensport, sondern um konkrete Projekte und gemeinsame Visionen geht. Ich arbeite gerne in kreativen Prozessen und Teams mit und habe wieder extrem viel Spaß daran, Content für Social Media zu produzieren. Wir sind da eine kleine Partie von Freunden, wir teilen dieselbe Begeisterung – mir geben die kleinen Abenteuer vor der Haustür am meisten.
Man darf sich dein Freiberufler-Leben also nicht so vorstellen, dass du dich nach dem Frühstück ins Homeoffice setzt und deinen Tag in einem Endlosloop aus Videokonferenzen verbringst?
Teilweise schon, wobei mir einfach richtige Treffen lieber sind. Prinzipiell schau ich, dass ich am Vormittag raus und auf den Berg komm. Jetzt im Mo­ment mache ich meistens Skitouren, vorausgesetzt, das Wetter passt halbwegs
Der ehemalige Ski-Rennfahrer ist jetzt Ski-Bergsteiger: Hat sich da bei dir an der Herangehensweise etwas geändert?
Die Begeisterung für die weiße Materie ist gleich geblieben, nur der Zugang ist viel entspannter. Ich bin ein alpinis­tischer Rookie, gehe nicht allein raus, sondern immer mit einem Profi, der sich mit Wetter und Lawinengefahr auskennt. Raufgehen tu ich gemütlich: kein Pulsmessen, keine Stoppuhr, kein Stress. Runterfahren tu ich meist sportlicher. Ich gehe rauf, um runterzufahren – und nicht um raufzugehen. Natürlich tüftle ich auch am Material rum. Drei, vier Stunden Tour reichen mir, ich mach keinen Spitzensport draus. Zum Mittag­essen bin ich wieder daheim. Dann geh ich mit dem Kleinen und dem Hund raus, g’schaftle im Haus herum, oder ich setz mich an den Schreibtisch und arbeite an meinen Projekten – die Work-­Life­Balance passt, nichts Besonderes ...
Allround-Talent: Marcel Hirscher als Bike-Künstler am Gosausee.

Allround-Talent: Marcel Hirscher als Bike-Künstler am Gosausee.

© Thomas Ramstorfer/First Look/Picturedesk.com

Corona, Umwelt, Klima, Energie, Armut ... Alle diese Begriffe gibt es auch als zusammengesetztes Wort mit -krise. Wie geht es dir damit als Vater eines heute zweieinhalb-jährigen Buben?
Mich macht der Zustand der Welt schon sehr nachdenklich, und da bin ich nicht der Einzige. Die Corona-Krise zeigt uns gerade, dass wir nicht die Unverwüstbaren sind, für die wir uns teilweise halten, sondern sehr verwundbar. Ein Virus, schon steht gefühlt die ganze Welt! Vielleicht, das ist meine große Hoffnung, bringt dieser Impact auch ein Umdenken für andere ungelöste Probleme mit sich.
Deine Skikarriere hat vier Bundeskanzler, eine Interimskanzlerin und acht Sportminister überdauert. Den meisten von ihnen wirst du irgendwann begegnet sein: Wie stehst du denn generell zu Politikern?
Darf ich dir eine Gegenfrage stellen?
Ja, klar. Drehen wir’s mal um...
Wärst du gerne von Beruf Politiker?
Ich versuche, mich an ein einfaches Prinzip zu halten: das Gute mitnehmen und das Schlechte besser machen.
Marcel Hirscher ist überzeugt, dass wir unseren Blick auf den Umgang mit Ressourcen ändern müssen.
Mich fragt keiner, aber: Nein!
Nein? Siehst du: du nicht, ich auch nicht. Ich frag das oft – und 99 Prozent sagen sofort: Nein! Ich beneide Politikerinnen und Politiker nicht um ihren Job, jetzt schon überhaupt nicht. Nicht die in der Regierung und nicht die Bürgermeister, die beim Einkaufen gefragt werden, ob sie nicht einen Acker in Bauland umwidmen könnten. Politik ist auch ein Ringelspiel. Auf Einzelpersonen zugeschnitten, aber dass die alle eine Partei und Lobbys im G’nack haben und wie es im Hintergrund zugeht, wissen wir „ZiB“-Zuschauer nicht. Deshalb halte ich mich da mit Urteilen sehr zurück, auch wenn es mir nicht immer leichtfällt. Auf der Couch g’scheit daherreden, das ist immer einfach.
Oje, jetzt mache ich mir ein wenig Sorgen um meine letzte Frage. Ich stell sie trotzdem. Angenommen – nur als Gedankenspiel –, du hättest politisch das Sagen: Wo würdest du bei der Lösung der großen Probleme ansetzen?
Die einfachen Fragen immer erst ganz am Schluss stellen: finde ich gut! (Lacht.) Wenn ich Lösungen hätte, dann hätte ich was anderes zu tun. Zu vielen Themen weiß ich zu wenig. Und über manches wundere ich mich. Zum Beispiel darüber, dass, obwohl der Hut brennt, trotzdem genug Energie für taktische Manöver übrig ist, mit denen sich die Verantwortlichen in der schwierigen Situation gegenseitig das Leben schwer machen. Vielleicht hat ja auch das Sinn, und ich sehe ihn halt nur nicht. Ich versuch mich an ein einfaches Prinzip zu halten: das Gute mitnehmen und das Schlechte besser machen. Das können die Kleinen im Kleinen und die Großen im Großen. Auch wenn vieles in Schieflage ist: Ich habe die Hoffnung, dass wir als Menschheit für die Probleme, die wir selbst verursachen, auch Lösungen finden können, um sie wieder in den Griff zu kriegen. Aus jedem Ringelspiel, auch wenn es sich noch so verrückt dreht, kann man auch aussteigen.
Marcel Hirscher postet regelmäßig Szenen aus seinem neuen Leben auf Instagram: @marcel__hirscher

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Marcel Hirscher

Achtfacher Gesamtweltcupsieger, sechsfacher Slalom- und RTL-Gesamtweltcupsieger, siebenfacher Weltmeister, zweifacher Olympiasieger. Dann der Rücktritt, bald folgt das Comeback - für die Niederlande.

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