Alpine Skiing
Lucas Pinheiro Braathen: Ein neues Leben in Mailand nach eigenen Regeln
Der alpine Skisport ist von Tradition geprägt – doch Lucas Pinheiro Braathen passte nie so wirklich in dieses Bild. In Mailand startet er nun neu und schreibt die Regeln für sein Leben selbst.
Für die Medien war Lucas Pinheiro Braathen schnell der Paradiesvogel des Skisports – ein extravaganter Showman, der sich gern inszeniert und in jede Kamera strahlt. Vielleicht war das die einfachste Schublade für einen 25-Jährigen, der im Winter 2022/23 den Slalom-Gesamtweltcup für Norwegen gewann, nur um wenig später überraschend auszusteigen und künftig für Brasilien zu starten.
Sicher, Braathen hat es ihnen leicht gemacht: seine großen Ansagen, die lackierten Fingernägel, die Röcke, die weiten Shorts – all das bot eine Projektionsfläche, die im alpinen Skisport selten ist. Doch hinter dem Label als bunter Paradiesvogel steckt weit mehr als ein Athlet, dem die Bühne nie groß genug schien. Wer ihn nur auf der Rennpiste, in Trainingsläufen oder auf Pressekonferenzen erlebt, sieht lediglich den Techniker: den explosiven Perfektionisten, der um jede Hundertstelsekunde ringt. Das eigentliche Bild eines Athleten, der gerade dabei ist, sich völlig neu zu erfinden, bleibt dahinter verborgen.
Braathen hat für Brasilien bereits Geschichte geschrieben, als der 25-Jährige im November 2025 im Levi-Slalom den ersten Weltcup-Sieg für die südamerikanische Nation holte.
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Seinen Platz finden
Um etwas über den Mann selbst herauszufinden und die Quelle seiner Inspiration zu entdecken, muss man den anderen Braathen kennenlernen - den modebegeisterten Möbelsammler, DJ und Kunstliebhaber. Und das geht am besten, wenn wir uns in seinen neuen Heimatort nach Mailand begeben.
"Ich liebe alles an dieser Stadt", sagt Braathen und blinzelt geistesabwesend in die spätmorgendliche Sonne Mailands. Er sitzt in seiner Lieblingsbar, der Bar Paradiso in der Via Gerolamo Tiraboschi, und isst ein paar Artischocken vom kleinen apulischen Erzeuger Agricola Fratepietro - sie sind die besten in Mailand, sagt er überzeugt. Nach seinem Comeback im Skiweltcup hat Braathen neben seinem Hauptwohnsitz in Österreichs Altenmarkt eine Wohnung in der wirtschaftlichen Metropole der Kreativität gekauft. Es ist ein weiter Weg von Norwegen - der Heimat seines Vaters - und von Brasilien, dem Herkunftsland seiner Mutter.
"Ich bin in meinem Leben so viel gereist, und ich reise immer noch viel", sagt er. "Jetzt möchte ich an Orten leben, an denen ich mich wirklich zu Hause fühle. Braathens Eltern trennten sich, als er noch sehr jung war. Danach teilte er seine Zeit zwischen zwei Ländern und Kulturen auf. In Norwegen brachte ihm sein Vater im Alter von vier Jahren das Skifahren bei: "Ich hasste das Skifahren und fand jede mögliche Ausrede, um die Pisten zu meiden." In Sao Paolo hingegen ermutigte ihn seine Mutter, Fußball zu spielen, und er war sofort Feuer und Flamme. "Ich war der Gringo in Brasilien", sagt Braathen, "aber wenn man zusammen Fußball spielt, ist es egal, wie man aussieht, woher man kommt oder was man trägt."
Lucas shoppt noch schnell im Spezialitätengeschäft Terroir in Mailand.
© Mark Clinton, The Red Bulletin
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Immer auf der Flucht
Der Junge fühlte sich zum ersten Mal akzeptiert und verstanden. Als er acht Jahre alt war, versuchte er sich erneut im Skifahren und fand sofort Freunde im norwegischen Bærums Ski Club. Von da an verbrachte Braathen seine Zeit auf den Pisten und auf Reisen, immer in Gesellschaft neuer Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen. "Ich wollte dieses Leben, aber ich war auch immer auf der Flucht", sagt er und gfreift sich noch eine Artischocke von dem kleinen Teller.
Auf der Flucht? Ja, sagt er. "Ich war auf der Flucht vor mir selbst", erklärt Braathen weiter. "Ich habe versucht, mich zu integrieren, mich anzupassen - ich habe nicht verstanden, was mir eigentlich wichtig ist." Er fragt im Interview, ob ich mit dem Jante-Gesetz vertraut sei, einem sozialen Kodex, der in den skandinavischen Ländern sehr bekannt ist. Das "Gesetz" besteht aus einer Reihe von 10 ungeschriebenen Verhaltensregeln, wobei der Schwerpunkt auf Gleichheit und Bescheidenheit liegt.
"Du darfst nicht denken, dass du anders bist, etwas Besonderes", erklärt Braathen. "Aber", platzt es aus ihm heraus, "ich bin anders - ich bin ein Individualist!" Er führt diesen Ausbruch auf sein Latino-Blut zurück, was uns zurück nach Mailand bringt.
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Mit Abwechslung das Training frisch halten
Lucas liebt die Abwechslung: Biken, Laufen, Yoga, Surfen, Gewichtstraining.
© Mark Clinton, The Red Bulletin
Im Sommer, Monate vor dem Skiweltcup, versucht Braathen, so viel Abwechslung wie möglich in sein Trainingsprogramm zu bringen (sein Cross-Training umfasst Radfahren, Laufen, Yoga, Surfen und Cliff Diving) - sogar noch mehr als im Rest des Jahres.
"Ich trainiere so, wie ich mein Leben lebe", sagt er. "Der einzige Weg, um an der Spitze zu bleiben, ist es, die Dinge so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten."
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Ein neues Zuhause in Mailand
Mailand ist der perfekte Standort: Es liegt in der Nähe von Seen und Bergen und hat zwei Flughäfen, von denen aus du in die ganze Welt fliegen kannst. Außerdem ist Mailand international als Hauptstadt der Mode und des Designs bekannt, was es zum idealen Ort macht, um sich als Sportler weiterzuentwickeln und gleichzeitig seine Kreativität zu entfalten.
Das ist seine Lebensaufgabe: den Skisport bunter zu machen und zu zeigen, dass es viele verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit gibt: "Der Skisport hat so viel Potenzial", sagt Braathen. "Vielleicht ermutigt meine Offenheit andere Athleten dazu, ein bisschen mehr von sich zu zeigen und die Welt des Skifahrens vielfältiger zu machen!"
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Von der Verletzung in eine neue Ära
Im Januar 2021, im Alter von 20 Jahren, verletzte sich Braathen beim Riesenslalom in Adelboden schwer. Damit war seine Saison vorzeitig beendet, und kurz darauf brachte die COVID-Pandemie das öffentliche Leben komplett zum Erliegen. "Das war ein Tiefpunkt in meinem Leben", gibt er zu. "Ich dachte daran, alles hinzuschmeißen." Eine Gruppe von Künstler:innen, die Braathen in Oslo kennenlernte, half ihm, seiner emotionalen Krise zu entkommen. "Ein paar Leute richteten im ehemaligen Flughafen von Oslo ein kreatives Labor ein", sagt er, "und ich war mittendrin." Modelabels mischten sich mit Musiker:innen und Künstler:innen mit Designliebhaber:innen - das war eine Welt, die ganz nach Braathens Geschmack war.
"Das Beste daran war, dass sie - vor allem Jonny vom Künstlerduo Broslo - mir das Gefühl gaben, dass ich Talent habe, und mir sagten, ich solle es nutzen", sagt er. Ein paar Monate später entwarf Braathen seine erste Kollektion für die skandinavische Modemarke Swims, zusammen mit einer Kampagne und einem großen Launch-Event. Er hatte endlich seine Daseinsberechtigung gefunden. Oder besser gesagt fast gefunden.
Er war auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten. Zuvor jedoch brauchte es einen hartnäckigen Streit mit dem norwegischen Skiverband und Braathens unerwarteten Rückzug aus dem Skiweltcup im Herbst 2023, bevor er – auf den Tag genau ein Jahr später – in Sölden unter großem Medienrummel seine Rückkehr zum Skisport verkündete. Dieses Mal würde er allerdings die Flagge von Brasilien schwenken.
Über sein Comeback sagt Braathen: "Mein Ziel ist es, das zu tun, was ich am meisten liebe, und gleichzeitig zu versuchen, über die Ski- und Sportindustrie hinaus zu wachsen, indem ich meine Stimme benutze und der Welt zeige, wer ich bin - ohne Kompromisse."