Lucas Pinheiro Braathen fährt auf einem Moped durch die Gassen von Mailand.
© Mark Clinton, The Red Bulletin
Ski

Milano mia!

Lucas Pinheiro Braathen hat sich nach seinem Ski-Comeback in Mailand eine Wohnung genommen. Weil hier die Mode, Design und gutes Essen zu Hause sind. Ein Streif­zug durch seine zweite Heimat.
Autor: Stephan Hilpold
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Vielleicht muss man mit seinem Bett anfangen. Es ist wuchtig und riesig und glänzt wie ein Raumschiff. «Ich wollte ein Bett haben», sagt Lucas Pinheiro Braathen «in dem ich aufwache und weiss, dass ich zu Hause bin.» Keines dieser Hotel- oder Apartmentbetten, die alle ein wenig ähnlich aussehen und in denen Braathen während der Skisaison die meisten seiner Nächte verbringt. Nein, hier in Mailand wollte Braathen ein Bett haben, das es so kein zweites Mal gibt.
Ein Bett aus rostfreiem Stahl. «Ein bruta­listisches Ungeheuer», meint Braathen lachend und schielt zu Francesco Zorzi, mit dem er das Edelstahlbett für seine Wohnung in der Innenstadt von Mailand entworfen hat. Francesco ist einer der drei Köpfe des Mailänder Designstudios NM3, das, seitdem das Streetwear-Label Fear of God aus Los Angeles die ersten Hocker orderte, mit seinen Edelstahlmöbeln einen richtigen Lauf hat. Francesco stammt aus Madonna di Campiglio im Trentino, einem Ort, an dem Braathen schon viele Weltcuprennen gefahren ist. «Der Sport verbindet uns», sagt Francesco, «und unsere Liebe zu Design.» Und er sagt dann einen Satz, der an diesem heissen Sommertag in Mailand immer wieder nachhallen wird: «Es gibt keinen zweiten Sportler, der auch nur annähernd so viel Geschmack und Stil hat wie Lucas.»
Portrait of alpine skier Lucas Pinheiro Braathen.

Von den Medien wird Braathen gerne «Paradiesvogel» genannt.

© Mark Clinton, The Red Bulletin

«Paradiesvogel» haben die Medien ­Lucas Pinheiro Braathen genannt, einen schillernden Showman und Entertainer. Wahrschein­lich, weil sie schlichtweg einen besseren­ Begriff zur Hand hatten, um den 25-jährigen Skirennläufer, der in der Skisaison 2022/23 für Norwegen den Slalom-Weltcup holte, dann völlig über­raschend ausstieg und mittlerweile für Brasilien am Start steht, einzuordnen. Vielleicht machte es ihnen Braathen auch einfach zu leicht, ihn in eine Schublade zu stecken, mit seinen grossen Sprüchen, den lackierten Fingernägeln, seinem ­Faible für Röcke oder ultraweite Shorts.
Paradiesvogel: In Anbetracht eines solchen Labels auf der Stirn musste man sich nicht mehr wirklich auseinandersetzen mit ­einem Sportler, dem der Sport allein nie genug war.
Es genügt nicht, Braathen nur auf den Skirennpisten dieser Welt zu beobachten, bei Trainingsläufen und Pressekonferenzen. Dort wird man Braathen, den Techniker kennenlernen, den explosiven Perfektionisten, der um jede Hundertstelsekunde kämpft. Aber um zu sehen, was diesen Mann wirklich ausmacht, woher er seine Inspiration nimmt, muss man sich auf die Spur des anderen ­Lucas machen, des Modebegeisterten und Möbelsammlers, des DJs und Kunstbesessenen. Und dafür fährt man am besten zu ihm nach Mailand.
Lucas Pinheiro Braathen will Skisport und Kreativität mehr zusammenbringen.

Lucas Pinheiro Braathen will Skisport und Kreativität mehr zusammenbringen.

© Mark Clinton

«Ich liebe alles an dieser Stadt», sagt Braathen, während er am späten Vor­mittag in die Mailänder Sonne blinzelt und vor seiner Lieblingsbar, der Bar Paradiso in der Via Gerolamo Tiraboschi, ein paar Artischocken der kleinen Azienda Agricola Fratepietro aus Apulien verkostet: Es seien die besten, die man in Mailand kriegen kann, schwärmt Braathen. Hier, in der Wirtschafts- und Kreativstadt, hat sich Braathen nach seiner Rückkehr in den Skiweltcup – neben seinem Hauptwohnsitz im österreichischen Altenmarkt – eine Wohnung genommen, weit weg von Norwegen, der Heimat seines Vaters, und Brasilien, wo seine Mutter herkommt. «Ich war und bin in meinem Leben so viel unterwegs», sagt er. «Jetzt will ich endlich an Orten ­leben, wo ich mich so richtig zu Hause fühle.»
Braathens Eltern trennten sich, als er ein Kleinkind war, fortan spielte sich sein Leben zwischen zwei Ländern und zwei Kulturen ab. In Norwegen stellte ihn sein Vater auf Skier, da war Lucas vier: «Ich habe Skifahren gehasst und erfand alle möglichen Ausreden, um ja nicht wieder auf die Piste zu müssen.» In São Paulo ­dagegen drückte ihm seine Mutter einen Fussball in die Hand, und Lucas war sofort Feuer und Flamme: «Ich war in Brasilien zwar der Gringo, aber auf dem Platz ist es egal, wie man aussieht, woher man kommt oder wie man sich anzieht.»
Lucas hat eine Mission: den Ski­sport bunter zu machen und zu zeigen, dass dessen Protagonisten unter­schiedliche Charaktere sind – mit verschiedenen Geschichten. «Skifahren» sagt Braathen, «hat viel Potential. Vielleicht kann ich durch meine Offenheit auch andere Athleten ermuntern, mehr von sich selbst zu zeigen. Und so Skifahren diverser machen!»

Weglaufen ...

Zum ersten Mal fühlte sich der Bub ­akzeptiert und verstanden. Erst mit acht probierte er es wieder mit dem Skifahren und fand im Bærums Skiklub sofort Anschluss: Fortan spielte sich Lucas’ Leben auf Skipisten – und auf Reisen – ab, mit immer neuen Leuten aus verschiedensten Kulturen. «Ich mochte dieses Leben», sagt Lucas und nimmt eine weitere Artischocke von dem kleinen Teller, «aber ich war auch ständig auf der Flucht.»
Nach dem Training ist vor dem Training: Lucas ist immer auf dem Sprung.

Nach dem Training ist vor dem Training: Lucas ist immer auf dem Sprung.

© Mark Clinton

Auf der Flucht? Ja, sagt Braathen: «Ich bin vor mir selbst weggelaufen. Ich habe versucht, mich in Gruppen zu inte­grieren, mich anzupassen. Und habe nicht gemerkt, was mir wirklich wichtig ist.» Ob man das Konzept des Janteloven kenne, fragt er. Damit werden in skan­dinavischen Ländern eine Reihe von ­ungeschriebenen Verhaltensregeln zum Ausdruck gebracht, die Gleichheit und Bescheidenheit betonen. «Man soll ja nicht glauben, man sei anders oder etwas Besonderes», erklärt Lucas, und dann platzt es aus ihm heraus: «Aber ich bin anders, ich bin Individualist!» Das sei wahrscheinlich seine Latino-Seite, sagt er, womit wir zurück in Mailand sind.
Ein riesiger Schreibtisch aus Edelstahl zieht sich quer durch das Erdgeschoss des zweistöckigen Designstudios NM3 in der Via Carlo Farini im Süden Mailands. Nach dem vormittäglichen Snack in der Bar ­Paradiso (deren Weinregale ebenfalls NM3 ­designte), stattet Braathen seinem Freund und Bettenmacher Francesco ­einen Besuch ab. Wie aufgefädelt sitzen junge Kreative hinter den Screens, an der Wand lehnen Bilder von Federico Hurth, einem italienisch-schweizerischen Fotografen, der am liebsten das abgerockte Leben der Gen-Z zwischen Clubs und ­Social Media einfängt. Einen Monat zuvor veranstalteten Francesco und seine Freunde hier in ihrem Studio eine Vernissage mit Hurths wilden Fotografien in Edelstahlrahmen, und natürlich war auch Braathen da. Ob er auch ein Bild gekauft habe? Klar, sagt er, ob er es aber ins Schlafzimmer hänge, wisse er noch nicht, und wendet sich wieder an Francesco, um ihn zu fragen, ob er heute noch ins Ceresio 7 schaue, den Fitnessclub, in dem beide trainieren.
Lucas besucht seine Freunde vom Design- bis Fotostudio NM3 in Mailand.

Lucas besucht seine Freunde vom Design- bis Fotostudio NM3 in Mailand.

© Mark Clinton

Braathen war schon am Morgen dort, für ein Intervalltraining auf leeren Magen. Nach dem Zwischenstopp bei NM3 wird er die zweite Trainingseinheit des Tages in dem hypermodernen Studio absolvieren. Jetzt im Sommer, Monate bevor es mit dem Skiweltcup wieder losgeht, versucht er, so viel Abwechslung als möglich (von Biken, Running über Yoga bis hin zu Surfen und Cliff Diving) in sein Training zu integrieren – noch mehr, als dies auch im Rest des Jahres der Fall ist. «Ich trainiere genau so, wie ich mein Leben führe», sagt er. «Nur wenn ich mich so vielen Impulsen wie möglich aussetze, kann ich zu wirk­licher Bestform auflaufen.»

...  und sich finden

Mailand ist dafür kein schlechtes Pflaster: Sowohl die Berge als auch die Seen sind nicht weit, die zwei Flughäfen bieten Ver­bindungen in die ganze Welt. Zudem ist die Stadt auch einer der Austragungsorte der Olympischen Winterspiele im kommenden Jahr, ein Event, auf das Braathen sowohl aus sportlicher als auch kreativer Sicht hinfiebert: Sportlich, weil Braathen bei Grossereignissen wie Weltmeisterschaften oder bei Olympia noch nie reüssieren konnte. Kreativ, weil ein Ereignis wie Olympia eine Unmenge an künstlerischer Energie freisetzen kann: «In Paris wurden zum ersten Mal Sport und Kreativität im grossen Stil zusammengeführt. Mailand hat diesbezüglich ein mindestens genauso grosses Potential.» Und dann sagt Braathen einen dieser Sätze, die von ganz tief drinnen kommen: «Ich werde alles dafür tun, dass die Welt des Wintersports und jene der Mode, der Musik und des Designs näher zusammenkommen.»
Lucas liebt die Artischocken und getrock­neten Tomaten in der Bar Paradiso.

Lucas liebt die Artischocken und getrock­neten Tomaten in der Bar Paradiso.

© Mark Clinton

Das ist auch abseits von Olympia Braathens Mission: den Skisport bunter zu machen und zu zeigen, dass dessen Protagonisten unterschiedliche Charaktere sind – mit ganz verschiedenen Geschichten. In der Formel 1 hat genau das die Netflix-Doku-Serie «Formula 1: Drive to Survive» geschafft. «Skifahren», sagt Braathen, «hat so viel Potenzial. Vielleicht kann ich durch meine Offenheit auch andere Athleten ermuntern, mehr von sich selbst zu zeigen. Und so die Welt des Skifahrens diverser machen!»
Bereits als Kind studiert Braathen Songs und Choreografien ein, die er mehrmals die Woche vor seiner Familie zum Besten gibt, als Teenager fängt er an, mit immer gewagterer Mode zu experimentieren, die Musikvideos von Michael Jackson und Queen kennt er auswendig. So richtig eingetaucht in die Welt der Kreativen ist Braathen aber erst vor einigen Jahren.
Lucas’ Leben ohne Mode? Undenkbar. Seine Pas­sion: selbst entwerfen!

Lucas’ Leben ohne Mode? Undenkbar. Seine Pas­sion: selbst entwerfen!

© Mark Clinton

Es war im Jänner 2021 in Adelboden, als sich der damals Zwanzigjährige beim Riesentorlauf schwer verletzte. Die Saison musste er frühzeitig abbrechen, zudem legte Covid abermals das öffentliche Leben lahm. «Ich war an einem Tiefpunkt in meinem Leben», erzählt er, «und dachte daran, alles hinzuhauen.» Eine Künstlergruppe, die er in Oslo kennengelernt hatte, half ihm damals aus der emotionalen ­Krise: «Das waren ein paar Leute, die aus dem ehemaligen Flughafen in Oslo ein Kreativlabor machten. Und ich war mittendrin.» Modelabels trafen auf Musikmacher, Künstler auf Design-Aficionados – eine Welt nach Braathens Geschmack: «Das Beste aber war: Diese Leute, zuvörderst Jonny Burns vom Künstlerduo Broslo, haben mir das Gefühl gegeben: Du hast Talent! Lebe es aus!» Ein paar Monate später designte Braathen für die skandinavische Modemarke Swims seine erste Kollektion, samt Kampagne und richtig grossem Launch-Event. Endlich war Braathen ganz bei sich. Oder sagen wir: beinahe.

In Bestform

Es bedurfte noch eines handfesten Streits mit dem norwegischen Skiverband und des überraschenden Ausstiegs aus dem Skiweltcup im Herbst 2023, bis Braathen auf den Tag genau ein Jahr später unter viel medialem Getöse in Sölden seine Rückkehr in den Skisport verkündete – diesmal allerdings unter brasilianischer Flagge. «Ich habe mir zum Ziel gesetzt, das zu tun, was ich am meisten liebe», ­sagte er beim Wiedereinstieg, «und gleichzeitig zu versuchen, über die Ski- und Sportbranche hinauszuwachsen, indem ich mich ausdrücke und zeige, wer ich bin – ohne Kompromisse.»
Endlich ist Braathen also dort angekommen, wo er immer hinwollte: Er hat die Zügel selbst in der Hand und arbeitet mit seinem eigenen Betreuerteam (immerhin neun Personen!). Er ist bei seinen Sponsoren Moncler, Atomic und Oakley eng in Design- und Kreativprozesse eingebunden, kann seiner Liebe zum DJing (er steht auf Deep House und Afrobeats), Mode und Design freien Lauf lassen. Und eine neue Freundin, die brasilianische Schauspielerin Isadora Cruz, hat er ausserdem. «Früher habe ich mich nicht einmal an meinen besten Tagen so gut gefühlt wie im letzten Jahr», sagt er, während er seine Sporttasche schultert und sich auf seine olivgrüne Honda Zoomer schwingt.
 Lucas Pinheiro Braathen bei einem Model-Shooting in Mailand.

Lucas shoppt noch schnell im Speziali­tätengeschäft Terroir in Mailand.

© Mark Clinton, The Red Bulletin

Noch eine Location will er seinen Be­suchern zeigen, einen Foodstore samt Bar, nein, eigentlich einen Concept-Store in ­einer unscheinbaren Nebenstrasse: Dort, im Terroir, verkauft Inhaber Gabriele ­Ornati lauter gute und schöne Dinge oder, anders gesagt: alles, was er selbst schätzt. Kleine, regionale Produzenten, die Qualität über alles stellen, finden sich hier in den Regalen, vom Kräutertee aus Südtirol bis zur Schokolade aus Chiapas. «Mich ­inspiriert jeder, der von dem, was er tut, selbst inspiriert ist», sagt Braathen.
Die Liebe zu Qualität, die Begeisterungsfähigkeit für kreative Leistungen, das hedonistische Schwelgen, all das hat Lucas mit Gabriele und seinem Team gemein, weswegen kein Mailand-Aufenthalt vergeht, ohne dass er seinen Freunden ­einen Besuch abstattet. Auch jetzt erledigt er noch schnell die Wochenendeinkäufe, sein eigener Kühlschrank ist nämlich leer.
Übrigens genauso leer wie Teile seiner Mailänder Wohnung, die er geruhsam und mit viel Zeit und Liebe ausstatten will. Das Bett hat er schon, eines, das es so kein zweites Mal gibt. Viele weitere massgeschneiderte und einzigartige Dinge werden folgen, damit die Welt des Lucas Pinheiro Braathen noch eine Spur bunter wird – genau so, wie er es sich von Kindes­beinen an erträumt hat.

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Lucas Pinheiro Braathen

Known for his charisma and eccentricity, Lucas Pinheiro Braathen is a world-class alpine skier who loves to defy stereotypes.

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