Oneohtrix Point Never performt live.
© Christelle de Castro / Red Bull Content Pool
Music

Hintergrund Resistance – 18 Ambient-Meilensteine

Chillout? New Age? Ambient ist so viel mehr – die beste Musik, die du oft nicht mal wahrnimmst. Ein sanfter Crash-Kurs mit den wichtigsten und unterschiedlichsten Ambient-Platten aus fünf Jahrzehnten
Autor: Ralf Theil
8 min readveröffentlicht am
Das Red Bull Music Festival Berlin hält viele Überraschungen bereit und dürfte noch den einen oder anderen Horizont erweitern. Wenn du dich beispielsweise für Ambient-Musik interessierst – oder nach ein paar Stunden mit der Musik aus dieser Liste auf den Geschmack kommst – solltest du ernsthaft darüber nachdenken, eine dieser Veranstaltungen zu besuchen: A/V//AMB am 10. September, ein experimenteller, sphärischer Abend mit Teilnehmenden der Red Bull Music Academy 2018; oder am 9. Oktober das Gegengewicht bei Sturm & Klang, wo ruhige Ambient-Klänge sich in beängstigende Drones und Geräuschteppiche verwandeln. Außerdem wirst du in dieser Liste Oneohtrix Point Never begegnen, der am 20. September eine Symphonic Sound System-Show spielt. Viel Spaß beim Entdecken!
Musik, die zugleich interessant, aber auch subtil und unauffällig genug ist, um gar nicht mehr bewusst gehört zu werden – das soll Ambient sein. Musik, die eins mit der Umgebung wird oder eine neue Umgebung für den Hörer erzeugen kann, beruhigend, meditativ oder auch unheimlich. Musik, die einfach da ist – wie ein Möbelstück oder eine Tapete aus Klang. Wir haben uns durch die wichtigsten Namen und Entwicklungen gewühlt, die das Genre seit den späten Sechzigern bis heute geprägt haben.

AMBIENT-ANFÄNGE

Brian Eno – Discreet Music (1975)
Soviel ist klar: Brian Eno war der erste Musiker, der Ambient als Genre auf den Punkt gebracht – ja, sogar benannt – hat. Nach seiner Zeit bei der Glamrock-Instanz Roxy Music stürzte er sich tief in musikalische Experimente, die das Verhältnis zwischen Hörer, Musik und Umgebung neu definieren sollten. „Discreet Music“ entstand mithilfe einer nicht ganz einfachen, gewissermaßen selbständigen technischen Konstruktion, die auf der Rückseite des Plattencovers genauer erklärt wurde. Inspiriert wurde Eno während eines längeren Krankenhausaufenthalts, und tatsächlich regte er an, „Discreet Music“ leise über Kliniklautsprecher abzuspielen – so leise, dass man es gerade noch hören könne. Egal bei welcher Lautstärke: vor allem der Titelsong ist ein wichtiger Grundpfeiler der Ambient-Tradition.
Aber schon lange vor 1975 gab es Vorreiter mit ähnlicher Intention. Wenn man will, kann man zu Erik Satie und seinem Konzept der Gebrauchsmusik, die er „Möbel-Musik“ – „Musique d’ameublement“ – nannte, in die Jahre 1917-23 zurückgehen. Auch Minimalisten wie La Monte Young, Steve Reich oder John Cage wiesen immer wieder Schnittmengen mit dem Konzept der Umgebungsmusik auf. Richtig ernst wurde es aber spätestens mit Terry Riley.
Terry Riley – A Rainbow In Curved Air (1969)
Ein subtiles Manifest zwischen Jazz, klassischer Musik, früher Elektronik, fernöstlichen Einflüssen und minimalistischen Konzepten, das Riley alleine eingespielt hat – und ein riesiger Einfluss für die folgenden Jahre. Auch mit dem späteren Live-Album „Persian Surgery Dervishes“ tauchte Riley in ähnliche Gefilde ein.
Brian Eno – Ambient 1: Music For Airports (1978)
Seine programmatische Reihe von vier „Ambient“-Alben eröffnete Brian Eno 1978 mit einem Album, dessen Intention nicht klarer hätte formuliert werden können: „Ambient 1: Music For Airports“ beruht zu einem großen Teil auf endlosen Tonband-Loops und extrem ruhigen, repetitiven Strukturen. Wer das alles auf die Spitze treiben möchte, kann zu einer auf sechs Stunden Spieldauer gestreckten Version greifen – obskur, aber nicht minder faszinierend. Auch die weiteren Teile der Reihe sind wichtige Werke des noch jungen Genres.
Miles Davis – He Loved Him Madly (1974)
Ein erwähnenswertes Stück am Rande, das logischerweise erst mal im Jazz-Fusion-Regal landet, aber absolut in die Mittsiebziger-Phase der Innovation mit langsamer, technisch manipulierter Musik passt – Miles Davis mit seinem kongenialen Engineer Teo Macero und dieser ergreifenden Hommage an Duke Ellington.

AMBIENT IN DEUTSCHLAND: DIE KRAUTROCK-GENERATION

Cluster & Brian Eno – Cluster & Eno (1977)
Okay, schon wieder Eno – aber wieso auch nicht. Schließlich schloss er sich mit den Krautrock-Experimentalisten von Cluster, dem Produzenten Conny Plank und dem Can-Bassisten Holger Czukay zusammen, um das europäische Festland und seine Musikauskennerschaft endgültig in den Bann von Ambient-Musik zu ziehen. Eine der faszinierendsten Platten, die in dieser Zeit in Deutschland entstanden sind.
Hans-Joachim Roedelius – Selbstportrait Vol. II (1980)
Nach Cluster begann eine fruchtbare und langlebige Solokarriere für Hans-Joachim Roedelius. Der zweite Teil der dreiteiligen „Selbstportrait“-Reihe ist eine perfekte Symbiose aus ruhigen Ambient-Welten und durchdachten, kompakten Songs.
Tangerine Dream – Rubycon (1975)
Als Edgar Froese 1967 Tangerine Dream gründete, konnte niemand ahnen, dass eine rein elektronisch musizierende Band über Jahrzehnte hinweg bestehen könnte. Konnte sie aber, bis zu Froeses Tod 2015 und sogar darüber hinaus. „Rubycon“, komplett mit dem epochentypisch naturnahen, new-age-igen Cover, zeigt die Band in ihrer vielleicht besten Phase, mit hörbaren Versatzstücken der frühen Experimentierfreude und noch vor dem kompletten Übergang zum strukturierenden Sequencer. Frei, weit und ausschweifend.

NEW AGE UND ETHNO – DIE ACHTZIGER

Laraaji – Ambient 3: Day Of Radiance (1980)
Die Geschichte des Multiinstrumentalisten Laraaji würde hier den Rahmen sprengen – aber keine Sorge, bei RBMA Daily gibt es mehr als genug Platz dafür. Jedenfalls ist dieses Album ein perfekter Anfangspunkt für den später zum Ethno-Klischee verkommenen New-Age-Stil der Achtziger – und der dritte Teil der „Ambient“-Reihe von Brian Eno, der Laraaji kurz zuvor im Washington Square Park entdeckt hatte. Seltsam, verwinkelt und irritierend schön.
Alice Coltrane – Turiya Sings (1982)
Auch ein verlorener Klassiker, ein meditatives Album zwischen Orgel, Chants und Synthesizer, das völlig zu Unrecht unter dem seichten Räucherstäbchen-Image der New-Age-Bewegung litt. Tief eintauchen bitte in dieses Werk der unerreichten Großtante von Flying Lotus.

AMBIENT HOUSE UND CHILL-OUT – DIE NEUNZIGER

The KLF – Chill Out (1990)
Die junge, florierende UK-Rave-Szene, die rasende Verbreitung von Ecstasy und die immer beliebter werdende Einrichtung von Chill-Out-Bereichen auf Partys – runterkommen und Eno-Platten hören, na klar – führten zu einem neuen Interesse an wabernder, atmosphärischer Musik, die immer wieder kurz mit dem Hintergrundrauschen verschwimmt. The KLF führen auf ihrem dritten Album perfekt vor, wie sich das im Jahr 1990 anfühlen musste. Oder um es mit dem Top-Kommentar auf Youtube zu sagen: „Spend a weekend with LSD, this on repeat and the telly on static; best time of my life.“
Aphex Twin – Selected Ambient Works Volume II (1994)
Vor derselben Kulisse entstand „Selected Ambient Works Volume II“ von Aphex Twin, sein zweites Album und in jeder Hinsicht noch fühlbar weit von seinem „Windowlicker“-Durchbruch entfernt. Im Gegensatz zum Vorgängeralbum („Selected Ambient Works 85–92“), auf dem noch leichtfüßig-synthetische Pop-Miniaturen dominierten, wird es hier wirklich episch, raumgreifend und auch angemessen dunkel. Eine Afterhour namenloser Stücke, die auch nach über zweieinhalb Stunden Spielzeit kein Ende finden will.
Biosphere – Substrata (1997)
Pfeifender Wind, knirschendes Holz, Gletscher in Zeitlupe. „Substrata“, das dritte Album des Norwegers Geir Jenssen alias Substrata, steht hier exemplarisch für die Tendenz, Ambient aus verstrahlter, digitaler Tiefe wieder ins Organische, fast an die frische Luft zu befördern. Vorwärtsgewandter, kühler Genre-Klassiker.

AMBIENT HEUTE UND MORGEN

GAS – Pop (2000)
Wolfgang Voigt, Kölner Minimal-Techno-Instanz und Kompakt-Gründer, mit einem sensiblen Meisterwerk aus Natur und Digitalem, aus mikrodosierter Techno-Ästhetik und ganz viel Luft.
William Basinski – The Disintegration Loops I-IV (2002/03)
Das physische Phänomen zerfallender, alter Tonbänder, bei denen sich langsam die magnetische Beschichtung von der Trägersubstanz löst und so den Sound im Wortsinne wegkrümeln lässt – das ist die Basis des vierteiligen Projekts von William Basinski. Dieser hörbare Verfall steht hier im unerwarteten, verstörenden Kontext des 9/11-Attentats auf das World Trade Center, das Basinski von einer Terrasse in Brooklyn aus miterlebte. Überlang, aber jede Minute ist es wert, gehört zu werden.
Tim Hecker – Harmony In Ultraviolet (2006)
An der undefinierten, unwirklichen Grenze zwischen Ambient, aufgekratztem Noise und grimmigen, verrauschten Drones bewegt sich dieses Album des Kanadiers Tim Hecker. Und man will gar nicht mehr woanders sein als in diesem UV-Wunderland.
Oneohtrix Point Never – Rifts (2009)
Aufschlussreiche Sammlung der seit 2003 entstandenen Frühwerke von Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never und zugleich ein spannender Startpunkt für eine endlose Rundreise durch das immer komplexer werdende Schaffen des Ausnahmekünstlers.
Oneohtrix Point Never spielt beim Red Bull Music Festival Berlin übrigens eine Show auf dem gewaltigen Raumklang-System von 4DSOUND im Funkhaus:
Max Richter – Sleep (2015)
Logische Konsequenz oder kompletter Wahnsinn? Der in Deutschland geborene britische Komponist Max Richter legt 2015 mit „Sleep“ ein Mammutwerk vor, das in seiner Zweckgebundenheit gleichauf mit „Music For Airports“ ist: Achteinhalb Stunden lang ist der Soundtrack für die Nacht, eine Komposition in 204 (!) Anspielstationen, die ganz ausdrücklich nur dafür da sein will, vom Einschlafen bis zum Aufwachen durchgehört zu werden. Ob man dieses Experiment nun selbst wagt und damit die Musik nicht nur in den Hintergrund, sondern wirklich ins Unterbewusstsein wegsortiert, oder ob man „Sleep“ einfach als epische Reise durch sanfte, unaufgeregte Neoklassik-Landschaften begreift, ist da schon fast egal. Viel größenwahnsinniger wird ruhige Musik nicht.
Huerco S. – For Those Of You Who Have Never (And Also Those Who Have) (2016)
Ausgerechnet aus Kansas City kommt dieses zugleich zurückgelehnte und komplexe Ambient-Album, das fast im Alleingang das Zeug dazu hatte, dem Genre neue Impulse zu geben. Keine linearen Strukturen, nur die verschwommene Erinnerung an so etwas wie Clubmusik und gerade Drums.
Vom 8. September bis 12. Oktober 2018 feiert die Red Bull Music Academy ihr 20-jähriges Jubiläum in Berlin. Gleichzeitig findet in verschiedensten Locations in ganz Berlin das Red Bull Music Festival statt und bringt Weltpremieren und Clubnächte, Konzerte und Künstlergespräche in die Stadt. Das ganze Programm findest du auf redbullmusic.com.
Hole dir die kostenlose Red Bull TV App und sichere die ganze Action auf all deinen Geräten: Hier herunterladen!