Ende Mai. Andi Wellinger sitzt im Teambus des DSV auf dem Rückweg von seinem ersten Mannschaftstraining in über einem Jahr. „Es war eine lange Zeit, die ich zuschauen musste“, sagt Andi. „Umso besser hat es sich angefühlt, heute wieder mit dem Team zu springen.“
Vor knapp einem Jahr hat sich der Olympiasieger im Skispringen bei einem ähnlichen Sommertraining das Kreuzband im rechten Knie gerissen. „Ein bitterer Moment“, erinnert sich Andi. „Aber Shit happens.“ Es folgt eine lange und harte Reha-Zeit, die Andi, Optimist, der er ist, zu seinen Gunsten nutz.
Als Praktikant im Athletes Performance Center in Thalgau, kurz APC, treibt er sowohl sein BWL-Studium, als auch seine Rückkehr auf die Schanze voran. Unermüdlich. Wissbegierig. Den Blick nach vorn gerichtet, statt zurück.
Andi, was ist dein erster Gedanke am Morgen?
Direkt nach dem Aufwachen bin ich noch nicht in der Lage zu denken. (lacht)
Welche Morgen-Routinen musst du pflegen, damit dein Tag gelingen kann?
Ich brauch in der Früh eine halbe Stunde, bis ich wirklich wach bin und in den Tag starten kann.
Welche Rolle spielen Routinen für deinen sportlichen Alltag?
Ich glaube ein gewisses Maß an Routinen braucht jeder Mensch. Bei mir sind das insbesondere Prozesse zur Vorbereitung und Nachbereitung im Training. Da muss man einen Weg für sich finden, was am effektivsten funktioniert.
Der Kreuzbandriss vergangenen Juni hat deinen Alltag auf den Kopf gestellt: Wie schwer ist es dir gefallen, dich auf den Reha-Prozess einzustellen?
Das ging erstaunlicherweise. Die zwei Tage von der Verletzung bis zur OP gingen sehr schnell vorbei. Da hatte ich kaum Zeit, mich mit meiner neuen Situation auseinanderzusetzen, so schnell lag ich unterm Messer. Im Krankenhaus nach der OP hat es mich dann das erste Mal eingeholt. Da habe ich zum ersten Mal echten Stillstand gespürt. Zum Glück habe ich mich mit meiner neuen Situation dann schnell abfinden können – obwohl die Veränderung schon ziemlich plötzlich und allumfassend ist.
Im Krankenhaus, nach der OP, habe ich zum ersten Mal echten Stillstand gespürt.
Womit hast du dich gerade in der Anfangsphase aufgemuntert?
Der erste Schritt war, den neuen Status Quo zu akzeptieren und den Blick nach vorne zu richten, statt zurück. Ich wusste, dass es eine anstrengende, zehrende Phase werden würde. Da hat es geholfen, ein gutes Umfeld zu haben. Das war für mich ganz entscheidend. Egal ob zuhause die Familie oder im Therapieumfeld, die Ärzte, Trainer und Therapeuten. Diese Kombination hat es mir, im Nachhinein betrachtet, fast einfach gemacht, diese schwierige Zeit hinter mich zu bringen.
Du hast die Zeit genutzt und während der Reha im APC in Thalgau ein Praktikum gemacht – wie zufrieden bist du mit dieser Entscheidung?
Das war eine sehr gute Entscheidung. Im APC konnte ich intensiv an meiner Genesung arbeiten und die körperlichen Ruhephasen zwischen den Reha-Einheiten nutzen, um meinen Geist zu fordern und dabei zu lernen, was alles hinter einer Trainings- und Therapie-Einrichtung steckt, wie ich sie selbst zwei Mal am Tag absolviert habe. Ich habe den Reha-Prozess also fast zeitgleich von beiden Seiten miterlebt. Jetzt weiß ich, wie aufwändig es ist, Athleten eine optimale Betreuung zu ermöglichen.
Wie bist du mit der Doppel-Belastung zurecht gekommen – die Rückkehr zu alter Form vorbereiten und im APC dein Studium vorantreiben?
Das waren schon lange Tage. Los ging es von 8 bis 10 Uhr mit Arbeit im APC, gefolgt von der ersten Trainingseinheit und dem Mittagessen. Danach das Gleiche nochmal: zwei Stunden Arbeit gefolgt von Training und Therapie bis circa 18, 19 Uhr. Das war anstrengend, aber extrem interessant und effektiv! Zum einen habe ich beide Seiten erlebt – die des Athleten und die des Betreuers. Zum anderen waren die Prioritäten von Anfang an klar, sodass das Praktikum nicht auf Kosten meiner Reha ging. Klar waren Körper und Geist am Abend dann erschöpft, aber wenn dir das Spaß macht, was du tust, ist es ein Leichtes die nötige Motivation und Energie dafür aufzubringen.
Wie oft hast du in dieser Phase an Mittagsschlaf gedacht?
(lacht) Gar nicht. Dafür habe ich mich meistens am Mittag schon darauf gefreut, dass ich am Abend früh ins Bett gehen kann.
Andi Wellinger: "Drei Medaillen haben mich nicht verändert!"
© Stefan Hobmaier / Red Bull Content Pool
Wenn dir das Spaß macht, was du tust, ist es ein Leichtes, die nötige Motivation und Energie dafür aufzubringen.
Was tust du, um der Müdigkeit tagsüber auch ohne Mittagsschlaf Herr zu werden?
Ich weiß aus Erfahrung, dass frische Luft mir hilft, frisch zu bleiben. Zudem bin ich dazu übergegangen, oftmals vor dem Nachmittagstraining zur körperlichen und geistigen Aktivierung vor der Belastung, ein Red Bull zu trinken. Das ist vielleicht eine weitere Routine, die ich entwickelt habe.
Nach Ende der Reha bist du nach Australien, wo du dir beim Surfen das Schlüsselbein gebrochen hast, dann kam Corona. Wie hast du all das verkraftet?
Das war schon eine Menge auf einmal. Als sie mir in Australien gesagt haben, sie können mich wegen Corona nicht vor Ort operieren, und zugleich waren alle Flughäfen dicht, hatte ich dann doch mal den Gedanken – das ist blöd (lacht). Zum Glück haben sie mich dann doch vor Ort operiert, es ist alles gut gelaufen und ich bin mit einem der wenigen Flüge, die es noch gab, nach Hause gekommen. Im Nachhinein eine lustige Geschichte, die glimpflich verlaufen ist. Nicht zuletzt, weil ich pünktlich zum Trainingsstart auf der Schanze Mitte Mai wieder fit war!
Wie hat sich die Rückkehr auf die Schanze für dich angefühlt?
Der erste Sprung nach fast einem Jahr Pause war schon mit mehr Anspannung und Adrenalin verbunden als das normal der Fall ist. Gleichzeitig war die Vorfreude vor dem ersten Springen riesig, weil ich darauf 11 Monate lang hingearbeitet habe. Glücklicherweise ist Skispringen wie Radfahren. Die Bewegungsabläufe sind im Körper gespeichert, sodass man diese Sportart nicht wirklich verlernt. So hat sich nur der erste Sprung ein wenig komisch angefühlt, danach ging es gut dahin. Ich freue mich sehr, dass ich endlich wieder im normalen Trainings-Alltag bin.
Glücklicherweise ist Skispringen wie Radfahren. Die Bewegungsabläufe sind im Körper gespeichert, sodass man diese Sportart nicht wirklich verlernt.
Welche Lehren hast du aus deiner langen Zwangspause gezogen?
Das sind mehrere Dinge. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, den Status Quo zu akzeptieren und ihn gleichzeitig in Relation zu setzen. Zudem habe ich meinen Körper komplett neu kennengelernt – als Athlet wie auch aus medizinischer Sicht. Ich habe außerdem gelernt, wie wichtig es ist, gerade in schwierigen Zeiten, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen. Das fängt damit an, die Krücken stehen zu lassen und die Kaffeetasse einfach wieder selber in die Hand nehmen zu können und endet mit dem Moment, in dem man endlich wieder in voller Montur oben auf dem Balken sitzt.
Stichwort neue Normalität: Was kennzeichnet den neuen Andreas Wellinger?
Positivität und Motivation. Ich weiß, wo ich hinwill, nämlich zurück auf mein altes Niveau, damit ich wieder um Siege mitkämpfen kann. Ich weiß, dass es ein langer Weg ist, aber ich bin gewillt, ihn zu gehen und habe Vertrauen, dass mein Körper schon bald die Sicherheit findet, die man zum Skispringen braucht.
Woran denkst du heute, wenn du ins Bett gehst?
Daran, wie toll das Gefühl ist, wieder auf der Schanze zu sein.