Deutschrap 25 (+3): Hört hier alle Episoden
1992 war die Geburtsstunde von Deutschrap. Was damals im tiefsten Untergrund begann, ist heute die größte Jugendbewegung des Landes. Von unschuldigen Jams in den Jugendzentren bis hin zum Durchbruch in den Mainstream, von politischem Aktivismus über harten Straßenrap bis hin zum Cloudrap und Afrotrap der Internet-Ära. Für #Deutschrap25 blicken wir zurück auf die Evolution des Genres: Warum war der Song so gut? Warum war er so wichtig? Wir erklären es im Podcast mit Visa Vie und Jan Wehn.
25 Jahre Deutschrap in 25 Songs. Na gut, 2019 dann 28.
2019: „Gib ihm“ von Shirin David
„Gib ihm“ brach nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung den ersten Rekord. In fünf Stunden und 52 Minuten knackte das Video zum Song auf YouTube die Millionenmarke. Produziert wurde „Gib ihm“ in den Kung Fu Studios in Berlin-Kreuzberg von den FNSHRS. Hinter dem kryptischen Crewnamen verbirgt sich ein Produzententrio, dessen Mitglieder für viele HipHop-Fans keine Unbekannten sein dürften: Paul NZA, Marek Pompetzki und Cecil Remmler produzierten nicht nur für Shirin, sondern auch für Ufo361.
2018: Kitschkrieg feat. Trettmann, Gringo, Ufo361 und Gzuz – Standard (Bonus)
“Aua, Oh-oh / Gringo ist sauer.” Dieser Einstieg bleibt hängen. Ihr Urheber Gringo ist eine der faszinierendsten Persönlichkeiten im Deutschrap – und gleichzeitig einer der besten Rapper des Landes. Gleiches gilt für Ufo361, den Kaiser von Kreuzberg, sowie Gzuz von der 187 Strassenbande. Trettmann, der Post-Troubadour aus Leipzig, ist seit seinem “#DIY”-Album ohnehin in seiner eigenen Liga. Unter anderem wurde es beim Preis für Popkultur 2018 mit den drei wichtigsten Awards ausgezeichnet. Auf “Standard”, der ersten Single des Berliner Produzententeams KitschKrieg als Band, kommen all diese Charaktere zusammen. Mehr geht kaum. Das Gipfeltreffen des Streaming-Rap-Heroen? Retro-Dancehall für die Zukunft? Einfach nur ein abartig geiler Song? Alles davon natürlich. Standard!
Mehr Infos: KitschKrieg werden mit „Standard” Standard
2017: SXTN – Von Party zu Party (Bonus)
Sie gönnen sich, gönnen sich! Nura und Juju alias SXTN lieferten 2017 die ultimative Hymne für HipHops hedonistisches Zeitalter. Über einen hemmungslosen Dancehall-Beat mit EDM-Drop zelebrieren die beiden Berufungs-Berlinerinnen das besonders gute Leben. Von Schuppen zu Schuppen, an jeder Bar ein Longdrink, dazwischen wird auf der Straße weitergefeiert: So, liebe Anfänger, machen das die Profis. SXTN wären allerdings nicht SXTN, würden sie zwischen all dem Exzess nicht auch ein paar kleine Gemeinheiten und sogar politische Botschaften platzieren (“Kanaken und Schwarze haben HipHop erfunden, doch Türsteher lässt sie nicht rein”). Das Duo Infernale hat sich inzwischen getrennt, zum Leidwesen ihrer zahlreichen Fans. Ihre Songs aber bleiben für immer. Dieser besonders. (Feier-Emoji.)
Mehr Infos: SXTN bleibt für immer
2016: Miami Yacine – Kokaina
2016 ist das Jahr, in dem Afrotrap, Reggaeton und Dancehall endgültig Einzug in das Klangbild des Deutschrap halten. Mitverantwortlich dafür ist Miami Yacine. Als der bis dahin völlig unbekannte Rapper aus Dortmund im September 2016 sein erstes Video “Kokaina” veröffentlicht, explodieren die Klickzahlen auf YouTube. Inzwischen haben mehr Leute das Video geklickt, als Deutschland Einwohner hat. Damit ist “Kokaina” das erfolgreichste Deutschrap-Video aller Zeiten. Für den Track suchte sich Miami Yacine einen Beat aus dem Internet, fand die eingängige Produktion von Season Production und machte daraus einen Ohrwurm, den man so schnell nicht wieder los wird. Miami Yacine ist Teil der KMN Gang, die sich gerne rar macht und fast keine Interviews gibt. Die Musik spricht für sich. Und wie.
2015: Haftbefehl feat. Soufian, DOE, Enemy & Diar – Kalash
Im Dezember 2015 kündigte Haftbefehl auf dem Red Bull Soundclash sein neues Mixtape “Unzensiert” an. Darauf präsentierte er voller Stolz eine neue Riege junger Rapper: Soufian, DOE, Enemy und Diar. Auf “Kalash” kamen alle vier mit dem Meister zusammen. Vor allem für Soufian war es der Startschuss zu einer steiler Karriere, die ihn zwei Jahre später selbst zum Red Bull Soundclash führt. Er stach sofort heraus, mit seinem aggressiven Flow und seinem Talent, glaubhaft klassische Straßenthemen mit futuristischen Beats zu vermengen. Zu “Kalash”, das von SOTT produziert wurde, führte der Legende nach übrigens eine zufällige Begegnung auf den Straßen Offenbachs. Soufian überzeugte Haftbefehl mit einem spontanen Freestyle – und war kurz darauf bei seinem Label Azzlackz unter Vertrag.
Mehr Infos: “Kalash” – Die Poesie der Azzlacks
2014: LGoony feat. Crack Ignaz – NASA
Heute ist “Cloudrap” fast schon ein Schimpfwort. Im Jahr 2014 aber war es die beste denkbare Bezeichnung für ein Phänomen, das aus den Tiefen des Internet kam und bis ins Weltall abstrahlte. “NASA” war die Hymne dieser Bewegung: verstrahlter Angeber-Rap aus einem lila schimmernden Paralleluniversum. LGoony kam aus dem Dunstkreis des “Swag Mob”, einer Facebook-Gruppe rund um Money Boy. Crack Ignaz wiederum kam aus Salzburg, auch nicht gerade das Epizentrum der Rap-Welt. “NASA” aber brachte die beiden über Nacht auf die weltliche Landkarte. Produziert von Whispa, war der Track nicht nur der Vorbote für ein gemeinsames Kollaboalbum. Er war auch ein Wegweiser für einen neuen Sound im deutschen Hip-Hop. Nächste Woche treten LGoony und Crack Ignaz als Teil des Team New Level beim Red Bull Soundclash an.
Mehr Infos: Der Anfang einer nebligen Bewegung: “NASA” von LGoony und Crack Ignaz
2013: Haftbefehl – Chabos wissen wer der Babo ist
Auch die besten Rapper brauchen Hits, um zu ganz Großen zu werden. “Chabos wissen wer der Babo ist” ist so ein Hit. Es war dieser Song, der 2013 den Aufstieg Haftbefehls vom Geheimtipp der Gosse zum Liebling des Feuilletons einleitete. Vor allem sein kreativer Umgang mit Sprache, die Fusion von arabischen und kurdischen Wörtern mit Frankfurter Straßenjargon und popkulturellen Referenzen stachen heraus. Den Rest erledigte der Beat von Produzent Farhot. Am Ende wurde “Babo” gar zum Jugendwort des Jahres gewählt. Denn die Chabos wussten…
Mehr Infos: Haftbefehl krönt sich mit “Chabos” zum Babo
2012: Cro – Easy
2012 kam die Idee des viralen Videos im Deutschrap an. Während sich auf der ganzen Welt der “Gangnam Style” verbreitete, ging in Deutschland vor allem “Easy” herum. Über 50 Millionen mal wurde der Clip bis heute geklickt. Der Schöpfer dieses Ohrwurms trug eine Panda-Maske und nannte sich Cro. Sehr viel mehr wusste man nicht – und musste man auch nicht wissen, denn der Song traf mit seinem unbeschwerten Vibe auch so den Nerv der Zeit. Bis zu dem Erfolg von “Easy” hatte Cro seine Mixtapes noch einfach so ins Netz gestellt. Diese Tage waren schnell gezählt. Auf “Easy” folgte eine schier unvorstellbare Karriere, die den Panda in die größten Hallen des Landes und bis hin zu seinem eigenen Kinofilm führte.
Mehr Infos: Deutschraps erstes virales Video: “Easy”
2011: Casper – Der Druck steigt / Blut sehen
2011 war Casper längst ein bekanntes Gesicht in der Szene. Sein Talent für Reime und Flows, seine natürliche Rockstar-Aura und seine berühmte kratzige Stimme verschafften ihm eine echte Kult-Gefolgschaft. Den Experten galt er als nächstes großes Ding. Was dann geschah, übertraf dennoch alle Erwartungen. Mit seinem ersten großen Album “XOXO” auf Four Music wuchs Casper über sein Genre hinaus und brachte den deutschen Hip-Hop auf die ganz großen Bühnen – mit Einflüssen von Prog Rock bis Hardcore und einer spektakulären Liveshow, wie man sie so noch nicht gesehen hatte. Die ersten beiden Songs des Albums – “Der Druck steigt”, produziert von Tikay, und “Blut sehen”, produziert von Dexter – erschienen kurze Zeit später als Doppel-Single und Split-Video und machten den schmächtigen Bielefelder zur Ikone.
Mehr Infos: Wie der Sound auf Caspers “XOXO" entstand
2010: Marteria – Endboss
Der große Rapper und Rap-Versteher Eizi Eiz hat Marteria einmal den “Torch seiner Generation” genannt. Wenn das so ist, dann ist “Endboss” sein “Kapitel 1”. Will heißen: Mit diesem Song begann ein neues Zeitalter. Deutscher HipHop machte plötzlich wieder Spaß – und lief sogar im Radio. Damals war das eine Sensation. Marterias erstes Major-Album “Zum Glück in die Zukunft” war ein riesiger Erfolg und übertraf alle Erwartungen. “Endboss” – wie alle Marteria-Songs produziert von The Krauts – fungierte auf dem Album als biografisches Intro und gleichzeitig als Mission Statement: vom niedlichen Kind zu Deutschraps Endboss.
Mehr Infos: Marteria – Endboss
2009: Casper, Favorite & Kollegah – Mittelfinger hoch
Über Jahre hinweg war das deutsche Rapgeschäft von Berlin dominiert. Die Stars kamen aus der Hauptstadt, die Fans folgten. Irgendwann aber wurde es Elvir Omerbegovic und Philipp Dammann – auch bekannt als Flipstar von der Gruppe Creutzfeld & Jakob – zu bunt. In Düsseldorf starteten sie eine Gegenoffensive namens Selfmade Records. 2009 hatte das Label die Berliner Alleinherrschaft dann endgültig gebrochen. Der zweite Sampler “Chronik 2” wurde zum Manifestum, der gemeinsame Song von Kollegah, Favorite und Casper zur Hymne der jungen Firma. “Mittelfinger hoch” hießen das Stück und die Tournee der drei Künstler, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Trotzdem ergab alles einen Sinn. Kein Wunder, dass vor allem Casper und Kollegah noch heute zu den erfolgreichsten Rappern des Landes gehören – beide auf ihre sehr eigene Weise.
2008: Tua - MDMA
2009 steckte Deutschrap tief in der Krise. Straßenrap war irgendwie durch, Geld war dank mp3 und Filesharing auch nicht mehr wirklich da und überhaupt ging es weder so richtig vor noch zurück. Aber dann kam auf einmal Tua. Ein gerade mal 22-jähriges Bürschchen aus dem Ländle, das über Deluxe Records sein Debütalbum präsentierte. "Grau" war anders: Musikalisch irgendwo zwischen IDM, Dubstep und Clicks’n’Cuts verortet, erzählte Tua über düster-melancholische Melodien und Rap-untypische Arrangements von Abtreibungen und Amphetaminen.
Mehr Infos: Tua über “MDMA”: “Es hat keiner verstanden”
2007: Huss 'n Hodn - Pornofilmkäse
2007 war deutscher Hip-Hop in einer schweren Sinnkrise. Die Kommerzialisierung des Genres schritt immer weiter voran, neue kreative Impulse fehlten. Gerade rechtzeitig erhoben sich da zwei Widerstandskämpfer aus dem Kölner Untergrund, um der Wackness den Kampf anzusagen. Rapper Kurt Hustle (heute bekannt als Retrogott) schoss gegen geldgeile Musikindustrielle, verirrte Öko-Rapper, peinliche Gangsta-Darsteller. Eigentlich schoss er gegen alle – mit feiner Selbstironie und ebenso feinen Sample-Beats. Gemeinsam mit seinem DJ Hulk Hodn schlug er eine Brücke zwischen dem Backpack-Rap der neunziger und dem harten Battlerap der frühen nuller Jahre, zwischen den Stieber Twins und Westberlin Maskulin. Das machte sie zu wahren Unikaten – und “Pornofilmkäse” zu einer Untergrund-Hymne für die Ewigkeit.
Mehr Infos: "Pornofilmkäse" - Die Bewegung der Realkeeper
2006: Marsimoto – Halloziehnation
In den später neunziger Jahren erschuf Madlib, ein Rapper und Produzent aus der Nähe von Los Angeles, das Fantasiewesen Quasimoto. Mit hoch gepitchter Stimme und verqueren Themen rappte er sich zu Kult-Status. Ein paar Jahre später folgte die deutsche Hommage: Marsimoto. Ins Leben gerufen wurde sie von einem jungen Rostocker namens Marten Laciny. Der legte später als Marteria eine echte Bilderbuchkarriere hin. Marsimoto aber war und ist 100% Untergrund. Auf dem Mini-Label magnum12 erschien 2006 das Mixtape-Schrägstrich-Album “Halloziehnation”. Darauf befand sich auch der gleichnamige Song, produziert von Dead Rabbit. Es war der Auftakt zu zehn Jahre Schall und grüner Rauch.
2005: KIZ – Hurensohn
“Hurensohn” ist nicht nur ein Song. “Hurensohn” ist eine Bewegung. Die begann im Jahr 2005 mit der sogenannten “Street-Offensive” des inzwischen eingestellten Untergrund-Labels Royal Bunker. Teil dieser Offensive war auch das erste Album von K.I.Z., einer Post-Streetrap-Band aus Berlin. Es hieß “Das Rap Deutschland Kettensägen Massaker” und war genau das: Mit krawalligen Beats – irgendwo zwischen Trash-Techno und Psycho-Punk – zogen Tarek, Nico, Maxim und DJ Craft sämtliche Konventionen ihres Genres durch den Dreck. Sie mischten radikal politische Statements mit Punchlines über ihre Penise und allerlei kreativen Beleidigungen. Das alles kulminierte in ihrer Ode an die wohl schönste Beleidigung im Deutschrap. Mit “Hurensohn” schaufelten K.I.Z. der Hip-Hop-Tradition ein Grab, auf dem sie bis heute Party machen. Und mit ihnen eine ganze Generation.
Mehr Infos: KIZ – Hurensohn
2004: Sido – Mein Block
Wissen, wo man herkommt, ist im Hip-Hop so wichtig wie den Mund aufmachen. Sido besang 2004 nicht als erster, aber als erfolgreichster Lokalpatriot seine Straße, sein Zuhause, seinen Block. So wurde das Märkische Viertel über Nacht deutschlandweit bekannt. Im Video führt der Straßenjunge mit der Maske die MTV-Zuschauer vom ersten bis zum 16. Stock und wieder zurück. Dabei deckte er mit Witz und Charme die dunklen Seiten der Hauptstadt auf. Noch im selben Jahr veröffentlichte Sido auf dem Label Aggro Berlin sein erstes Soloalbum “Maske”, das ihn endgültig zum Star machte. Produziert wurde “Maske” übrigens hauptsächlich von Roe Beardie, der auch den Original-Beat von “Mein Block” gebaut hatte. Zum Hit aber wurde schließlich der Video-Remix des Berliner Duos Beathoavenz.
Mehr Infos: “Mein Block”: Deutschraps erster Blockbuster
2003: Bushido – Bei Nacht
Seit 2001 machte Aggro Berlin die Ansagen in der Hauptstadt. Ab jetzt wurden auf den Schulhöfen vor allem die Tapes dieses Independent-Labels herumgereicht und die Obszönitäten von Sido, Bushido und Fler in die Toilettenkabinen geschmiert. Besonders das Album “Carlo Cokxxx Nutten” von Bushido (als Sonny Black) and Fler (als Frank White) etablierte eine neue Gangart: Gangstarap gab es jetzt auch auf Deutsch. 2003 veröffentlichte Bushido sein erstes Soloalbum und gleichzeitig sein Opus Magnum. “Vom Bordstein bis zur Skyline” öffnete das Tor zu einer finsteren wie faszinierenden Welt voller Gewalt, Drogen und Sex. Der Song „Bei Nacht“ brachte all das auf den Punkt, mit dem synthetisch unterkühlten Beat von Bushido und DJ Ilan sowie einem legendären Split-Video, mit dem Labelchef Specter den richtungsweisenden Sound sichtbar machte.
2002: Kool Savas feat. Eko Fresh – Optik Anthem
Manchmal ergeben 1 und 1 eben mehr als 2. Die Kombination von Kool Savas und Eko Fresh war so ein Fall. Schon früh erkannte der King of Rap das Talent dieses Jungen aus Mönchengladbach, der vor nichts und niemandem Respekt zu haben schien. Als er seinen ersten großen Plattenvertrag bei Subword/BMG unterschrieb, bestand er daher darauf, dass auch Eko seinen Deal bekam. Das war die Geburtsstunde der Optik Crew, der neben S-A-V und Ek auch die Produzentin Melbeatz und die Sängerin Valezka angehörten. “Optik Anthem” war die offizielle Hymne dieser Bewegung. Sie war geprägt von der Beteiligung aller vier Mitglieder – und dem Widerspiel zweier MCs, denen mit schlafwandlerischer Sicherheit einfach alles gelang.
Mehr Infos: Eko und Savas: Deutschraps bestes Tag Team
2001: Samy Deluxe – Weck mich auf
Sein enormes Talent zeigte Samy Deluxe schon 1997 auf dem Demotape seiner Gruppe Dynamite Deluxe. Wer 2001 immer noch schlief, wurde dann von Deutschraps bekanntestem Weckruf aufgerüttelt. “Weck mich auf” von Samys erstem Soloalbum war das, was man einen “Instant Classic” nennt. Der eingängige Beat, produziert von Sleepwalker; das Video, eindringlich in schwarz und weiß, voll von Plattenbauten und Szenen einer Gesellschaft im Verfall. “Warum sind ich und meine ganze Generation so depressiv?”, fragte Samy mehrmals am Tag auf MTV und VIVA. Nie kamen Gesellschaftskritik, Rap-Skills und kommerzieller Erfolg auf so hohem Niveau zusammen.
2000: Plattenpapzt feat. Kool Savas – King of Rap
Kool Savas kam 2000 aus dem tiefsten Untergrund. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich selbst zum “King of Rap” zu erklären. Ohne Rücksicht disste er die Vorväter des deutschen Hip-Hop. Savas, der bis dahin vor allem als Mitglied der Gruppen Westberlin Maskulin und M.O.R. bekannt war, trat zu jener Zeit vermehrt als Solokünstler auf. So wurde aus der Untergrund-Ikone schließlich Deutschlands größter MC. “King of Rap” – produziert von Roe Beardie und Plattenpapzt für dessen Compilation-Album “Full House” – war ein Meilenstein in dieser Entwicklung. Für viele ist der Song bis heute der Beweis, dass Savas tatsächlich der König seiner Disziplin ist.
Mehr Infos: Savas’ “King of Rap” – erzählt in 5 Bildern
1999: Afrob feat. Ferris MC – Reimemonster
Ende der neunziger Jahre galten Hamburg und Stuttgart als die Hip-Hop-Hochburgen in Deutschland. Als sich 1999 also die beide Szenen für einen Track zusammen taten, drehten alle durch. Hier Afrob “aus dem Schoße Kolchose”; dort Ferris MC, der zwar ursprünglich aus Bremen stammt, aber als Mitglied der Mongo Clikke fest mit der größeren Hansestadt verbunden war. Als interkulturelles Tag-Team erklärten sie sich zur richtigen Adresse “für Rap und fette Bässe” und erklärten der Nation, was Hip-Hoper so machen. “Reimemonster” erschien als Single-Auskopplung aus Afrobs Debütalbum “Rolle mit Hip Hop” bei Four Music und dominierte über Monate hinweg das Musikfernsehen. Vor allem aber schaffte es das bis dahin Undenkbare: Deutschrap lief plötzlich auch im Club.
Mehr Infos: 10 Songs, die “Reimemonster” beeinflusst hat
1998: Absolute Beginner feat. Samy Deluxe – Füchse
Coole Popmusik in Deutschland, das hieß in den neunziger Jahren vor allem: Musik der Hamburger Schule. Bands wie Die Goldenen Zitronen, Blumfeld oder Die Sterne prägten einen smarten, stilbewussten, textverliebten, musikalisch offenen Stil. Diesem Geist entstammten auch die Absoluten Beginner, die seit 1992 mit Rap, Dub, Punk und Funk experimentierten. Ihren kommerziellen Durchbruch erlebten die Beginner ausgerechnet, als sie sich auf ihre Kernkompetenzen besannen: dope Beats, dope Rhymes, dope Cuts. Ihr Album “Bambule” gilt vielen als das beste Deutschrap-Album aller Zeiten. In jedem Fall löste es einen beispiellosen Boom aus. Mit dem Song “Füchse” ebneten Eizi Eiz, Denyo und DJ Mad zusätzlich den Weg für einen anderen Rapper, der deutschen Hip-Hop auf seine eigene Weise prägen sollte…
Mehr Infos: “Füchse” hat Hamburg wieder cool gemacht
1997: Freundeskreis – Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte
Geschichtsunterricht in cool. Was Generationen von gelangweilten Schülern wie ein unauflösbarer Widerspruch erschien, machten Freundeskreis mit spielerischer Leichtigkeit klar. Über einen ruhigen Beat voller Seele rappte der gerade mal 23-jährige Frontmann Max Herre über Tschernobyl und ABC-Waffen, den Putsch in Chile und den Bürgerkrieg in Kambodscha, Salvador Allende und Nelson Mandela. Das Stück erschien auf “Quadratur des Kreises”, dem Debütalbum der Stuttgarter Band, der außerdem noch Produzent Don Philippe und DJ Friction angehörten. Gemeinsam etablierten sie eine Musikalität im deutschen Hip-Hop, die bis heute maßgebend ist. If you don’t know, now you know.
Mehr Infos: Geschichtsunterricht mit Freundeskreis
1996: Stieber Twins – Fenster zum Hof
1996 war das Jahr des Übergangs, die Brücke zwischen Subkultur und Mainstream, das Ende der unschuldigen Ära der Hip-Hop-Jams und gleichzeitig der Beginn des ersten großen Booms. Die Stieber Twins stehen symbolhaft für diesen Übergang. Als Teil der Generation 1 nach Torch und Advanced Chemistry hatten sich die Heidelberger Zwillinge schon früh in ganz Deutschland einen Namen gemacht, als Graffiti-Maler und mit ihren denkwürdigen Parts auf dem “Klasse von 95”-Sampler. 1996 veröffentlichten Christian und Martin schließlich über MZEE Records ihr erstes und einziges Album “Fenster zum Hof”. Die Platte – auf der auch der gleichnamige Song zu hören war – war der erste Konsens-Klassiker des Genres und erschuf einen Mythos um das Bruder-Duo, der bis ungebrochen ist.
1995: Schwester S – Ja, klar
“Du bist ein Babe, ich will dein Badewasser saufen.” Ob dieser Anmachspruch jemals zu Erfolg geführt hat, ist unbekannt. Jedenfalls führte er zu einem Riesen-Hit. “Ja, klar” war 1995 eine Sensation. Mit der Frankfurterin Sabrina Setlur stand zum ersten Mal überhaupt eine Frau auf der großen Bühne. Sie überflügelte ihre männlichen Kollegen gleich reihenweise. Schwester S war ein echter Star, ihr Label 3p das Größte, was Deutschrap bis dato gesehen hatte. Plötzlich klang alles so fett, rund und eingängig wie in Amerika, ohne dass man sich dafür schämen musste. Hinter der Musik steckten die Produzenten Martin Haas und Moses Pelham sowie die Texter Thomas H und Moses P, die hier auch als Gastrapper um Schwester S werben. Vergeblich natürlich – S war schließlich die Queen und ließ sich von so billigem Geschleime kein bisschen beeindrucken.
Mehr Infos: 5 Dinge, die du über Schwester S. wissen musst
1994: Konkret Finn – Ich diss dich
Rödelheim Hartreim Projekt. Azad und D-Flame. Jonesmann und Haftbefehl. Celo und Abdi. Die Tradition Frankfurter Straßenrapper ist groß und wohl dokumentiert. Begonnen aber hat sie mit Konkret Finn. Deren Song “Ich diss dich” erschien ursprünglich schon 1993, auf der Compilation “Frankfurt Trax Volume 4” – einer Platte mit harten Techno-Tracks der lokalen Produzenten-Legende Marc Acardipane. Das passte, denn auch “Ich diss dich” war nichts für schwache Gemüter. Auf rasenden Beats von Produzent Iz gab es brutale Beleidigungen des selbsternannten Reimroboters Tone. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben. Als das Stück 1994 dann als Single beim Label No Mercy Records erschien, brach endgültig eine neue Ära an. Battle-Rap in Deutschland war geboren.
Mehr Infos: Konkret Finn: die Geburt von Battle Rap in D
1993: Too Strong – Rabenschwarze Nacht
Wenn es den Begriff “Kult” nicht gäbe, man müsste ihn für diesen Song erfinden. “Rabenschwarze Nacht” ist der größte Hit der Dortmunder Band Too Strong um die Rapper Doze One und Der Lange alias AtomOne. Bekannt ist vor allem die so genannte “Empire Version” mit der Trompetenmelodie aus dem Film “Star Wars”. Die Ehrfurcht gebietende Marschmusik untermalt perfekt die düstere Botschaft des Songs. In ihr kommen zwei zentrale Hip-Hop-Erzählstränge der damaligen Zeit zusammen. Einerseits ist “Rabenschwarze Nacht” aus der Perspektive eines Graffiti-Writers geschrieben, der nachts durch die Stadt zieht. Andererseits prangert er die Gewalt gegen Asylbewerber an, die zu Beginn der neunziger Jahre genauso gegenwärtig war, wie sie es heute wieder ist. Auch das macht “Rabenschwarze Nacht” zum zeitlosen Klassiker.
1992: Advanced Chemistry – Fremd im eigenen Land
Frag die Beginner. Frag die Stiebers. Ja, frag alle: Advanced Chemistry haben das Fundament gelegt. Mag sein, dass zuvor auch schon andere Reime in deutscher Sprache über einen Beat legten. Aber das spielt keine Rolle. Vor AC war alles Kokolores. “Fremd im eigenen Land” hingegen war Real Rap, in jeder Hinsicht: kompromisslos, politisch und irre kreativ. Noch bemerkenswerter ist, dass der Song bis heute traurigerweise nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat. Fremdenhass und Rassismus sind nach wie vor schmerzlich präsent in diesem Land. Torch, Toni L und Linguist aus Heidelberg stellten sich schon 1992 energisch dagegen – und schrieben damit Musikgeschichte.
Mehr Infos: Der Urknall von Deutschrap: Advanced Chemistry