Babylon Berlin: die 20er
© Gaurab Thakali
Clubbing

Revue & Rave in Berlin – die Clubkultur der Zwanziger und was von ihr blieb

Arno Raffeiner findet die Wurzeln der Berliner Clubkultur in den extravaganten 1920er Jahren
Von: Arno Raffeiner
9 min readPublished on
Maschinenstampfen, mehrere gleichzeitig ertönende Musikstücke, Hupen- und Pfeifensignale, Lärmen, Lachen, Kreischen der versammelten Menschenmassen.
Nein, das soll nicht etwa die Peaktime in einem Berliner Club beschreiben. Es ist auch kein Beispiel für die Lyrik der Neuen Sachlichkeit. Das Zitat stammt aus einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 1922. So charakterisierten die Richter die Geräuschkulisse eines Rummelplatzes, die für die Nerven des Großstadtmenschen schädlich sei und folglich nach zehn Uhr abends unterbunden gehöre. Doch gegen das Kreischen der Massen war (und ist) schwer anzukommen. Seinetwegen ging in den Zwanzigerjahren, zur Zeit der Weimarer Republik, die Legende vom wilden und sündigen Berliner Nachtleben erstmals um die Welt.
Heute ist die Ära zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten oft genug Stoff für Ausgeh-Listicles, die man durchscannt, wenn man ausnahmsweise einfach nur zu Hause bleiben will: Die 20 besten Zwanzigerjahre-Partys – mit Frisur- und Stylingtipps! Ein weniger nostalgischer Blick auf die Zeit und das, was sich in ihr an politischen Umwälzungen abzeichnete, macht klar: Die Verklärung, mit der die „Goldenen Zwanziger“ auf Kostümpartys beschworen werden, ist eher fehl am Platz. Man vergisst vor lauter Aufregung um Flapper Girls, Cabarets, Swing-Orchester und die kulturelle Blüte einer jungen Weltstadt schnell, wie groß die politischen Spannungen der Zeit waren, wie hart die ökonomische Wirklichkeit den größten Teil der Bevölkerung traf und wie beides den Alltag bestimmte.
Von Anfang an schien klar: Hier kann alles gleich in die Luft gehen. Das ist nicht von Dauer. Also: umso bunter jetzt, solange es irgendwie geht!
Der Serie „Babylon Berlin“ gelang Ende 2017 das Kunststück, die Härte mit der Nostalgie zu vereinen. Rund um einen Krimiplot – die Story handelt von politischen Intrigen, Mord und Raffgier – entwickelt sich ein differenziertes Panorama der damaligen Zeit, in sozialer, ökonomischer, kultureller Hinsicht. Hintergrundkulisse ist die moderne Metropolis: eine Stadt wie eine Dampflokomotive, ständig in voller Fahrt, unaufhaltsam, gnadenlos.
Kurfürstendamm/Joachimstaler Straße, ca. 1924

Kurfürstendamm/Joachimstaler Straße, ca. 1924

© John Graudenz/Ullstein Bild

Lust und Zaster

„Jeder einmal in Berlin!“ So lautete damals der Lockspruch des aufkommenden Stadtmarketings, das auf Plakaten tatsächlich mit Dampfloks warb und mit einem Schriftzug, der die Silhouette des Brandenburger Tors nachzeichnet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts heißt es: „Arm, aber sexy.“ Was der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, der erste offen schwule Spitzenpolitiker der BRD, als Parole ausgab, hätte man sich für eine – zugegeben etwas zynische – Tourismuskampagne der Zwanziger kaum besser ausdenken können. Armut prägte das Leben der meisten Stadtbewohner, und nach den auch moralischen Erschütterungen durch den Ersten Weltkrieg sowie aufgrund menschlicher Nöte und Bedürfnisse – viele Männer waren in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern geblieben – bestimmte eine neue Freizügigkeit die Sexualität.
Im Rückblick wird das gerne als reizendes Laissez-faire verklärt. „Babylon Berlin“ erliegt diesem Mythos nicht. Schon in der ersten „Darkroom“-Szene zeigt die Serie, dass der lockere Umgang mit Körperlichkeit meist den Gesetzen der käuflichen Liebe unterliegt. Die Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries läuft als Charlotte Ritter selbstbewusst durch das Etablissement Moka Efti, das mit seiner Mischung aus Bar, Restaurant, Tanzlokal, Bordell, Szenetreff und Unterwelt-Hotspot etwas einlöst, das man heute 360-Grad-Clubkonzept nennen würde. Charlotte, eine angehende Kriminalpolizistin, vergnügt sich auf der Tanzfläche, nimmt sich am Tresen, wonach ihr gerade ist – und tauscht kurz danach auf einer eigenen Separee-Etage im Domina-Outfit kleine Quälereien gegen die Zuwendungen ihrer Freier.
In einer Zeit, in der Verhütung anders oder gar nicht funktionierte und Freizügigkeit immer mit möglichen Konsequenzen und (fast ausschließlich Frauen drohenden) sozialen Sanktionen verbunden war, ist diese Betonung ökonomischer Zwänge nur einleuchtend. Das Laissez-faire liegt eher in der Selbstverständlichkeit, mit der „Babylon Berlin“ seine weibliche Hauptfigur und Sympathieträgerin ohne Verlegenheit auch bei ihrem Nebenerwerb als Prostituierte im Nobelclub zeigt. Einleuchtende Begründung: Sie braucht das Geld.

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Zeit für Zahlen

Ende Dezember 1927 zählte Berlin knapp 4,2 Millionen Einwohner. Die Stadt war 1920 hinter London und New York zur drittgrößten der Welt geworden. Nach dem Mauerfall 1989 ließ das prognostizierte Bevölkerungswachstum in der wiedervereinten deutschen Hauptstadt zunächst auf sich warten. Erst vor Kurzem hat es angezogen: Eine Viertelmillion Neuberliner gab es in den vergangenen fünf Jahren, insgesamt lebten Ende 2017 3,6 Millionen Menschen in der Stadt, davon rund 600.000 ohne deutschen Pass. Über 1,5 Millionen Berlinbesucher pro Jahr werden in Curt Morecks 1931 erschienenem „Führer durch das lasterhafte Berlin“ genannt. Fast 13 Millionen Besucher gibt das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg für das Jahr 2017 an, wobei es 2001 noch weniger als 5 Millionen waren. Die Lokomotive nimmt wieder Fahrt auf. Jeder einmal in Berlin!
Ein wichtiger Motor für die Tanzrevuen, Cabarets und Ballsäle war in den Zwanzigern das Aufkommen einer neuen gesellschaftlichen Größe zwischen Arbeiterklasse und Beamtentum: die Angestellten. Nach einem langen Tag im Sitzen suchten die Kopfarbeiter abends Bewegung und Zerstreuung. Und sie verdienten genug, um sich beides in den Nachtlokalen leisten zu können. Die Rolle der Angestellten hat einige Jahrzehnte später eine neue gesellschaftliche Größe zwischen Billigfluglinie, Hostel-Warteschlange und Airbnb-App übernommen: die Partytouristen. Sie sind es, die heute den zunehmend internationalisierten Amüsierbetrieb Berlins am Laufen halten. Ohne den „Easyjetset“, den Tobias Rapp in seinem Buch „Lost and Sound“ beschreibt, wäre das derzeitige Überangebot im Berliner Nachtleben nicht vorstellbar.
Die Stadt zehrt – so wie das abenteuerhungrige Berlin der Zwanziger – davon, dass sie einer großen Zahl an Menschen das Versprechen gibt, sich in besonderen und oft auch besonders abgeschirmten Räumen selbst ausprobieren zu können. Nicht zufällig sind zentrale soziale Schauplätze der Nacht, damals wie heute: Emanzipation und Androgynität, Queerness und Gay Culture, Lust und Exzess. Von diesen besonderen Orten aus erscheint die Stadt als große Revue der Andersartigkeit.

Babylon Berghain

Das Schlagwort von Berlin als Schauplatz von Irrungen und Wirrungen wie in der biblischen „Hure Babylon“ kursierte bereits seit der Jahrhundertwende. Heute ist das Synonym für alles Verschwitzte und Verruchte, für das die Stadt weltweit bewundert wird, ein anderes B-Wort: das Berghain. Der Name des Techno-Clubs ist selbst längst zu einer Chiffre geworden, die stellvertretend für alle Verheißungen Berlins steht, zu einem Symbol, das alle, die je dort waren, und wohl noch mehr alle, die noch nie dort waren, mit persönlichen Ahnungen und Sehnsüchten aufladen. Und was die Zwischenkriegszeit so intensiv machte – die Unruhen, die Vergänglichkeit, das Sich-Verschwenden –, das findet sich heute in einem anderen Z-Wort wieder: der Zwischennutzung. Die Clubkultur hat sich immer wieder Räume angeeignet, in denen vorläufig niemand anderes so richtig Sinn finden konnte. Tänzer und Raver waren darum nie verlegen.
So ergeben die Charleston-Tänzer ein treffendes metaphorisches Bild für die Zeit: Ihre spontane Gesamtchoreografie bringt den Widerspruch zwischen dem Aufschwung des Individualismus und der gleichzeitigen neuen Herrschaft der Massenkultur zum Swingen.
Die berühmte Wendung vom „Tanz auf dem Vulkan“ fiel schon, bevor der wilde Wirbel der Zwanziger überhaupt losging: im Februar 1919, drei Monate nach Ausrufung der Weimarer Republik. Sie bezog sich auf Berlin als die Hauptstadt dieses neuen Staates ohne Kaiser, im Widerstreit zwischen Republikanern, Sozialisten, Nationalisten und Kommunisten. Ein Staat, dessen prekäre Zukunft sich schon bei seiner Geburt abzeichnete. Von Anfang an schien klar: Hier kann alles gleich in die Luft gehen. Das ist nicht von Dauer. Also: umso bunter jetzt, solange es irgendwie geht!
„Der Kern der Sache ist Vergnügen“, stellte Curt Moreck in seinem Buch über das lasterhafte Berlin fest. Was er 1931 schrieb, gilt zweifellos auch heute noch: „Dass die Nachfrage nach diesem Vergnügen sehr, aber sehr stark sein muss, das beweisen die unzähligen Tanzstätten, die es in Berlin gibt.“ Der letzte Schrei in den Tanzlokalen kommt damals aus dem Süden der USA: der Charleston. Das Besondere an dem zackigen Fersen-in-die-Höhe-Spiel im 4/4-Takt: Er wird ohne festen Partner getanzt. Man ist für sich, flirtet aber prinzipiell mit allen anderen auf dem Parkett. So ergeben die Charleston-Tänzer ein treffendes metaphorisches Bild für die Zeit: Ihre spontane Gesamtchoreografie bringt den Widerspruch zwischen dem Aufschwung des Individualismus und der gleichzeitigen neuen Herrschaft der Massenkultur zum Swingen. Es ist genau das, was auch im endlosen, treibenden Klangstrom der elektronischen Clubmusik passiert: das solitäre Aufgehen in der Masse. Man tanzt ohne Körperkontakt mit einem einzelnen Gegenüber, fühlt sich im Idealfall aber vereint mit allen.
Bekanntester Ort für solche Vereinigungen auch im Sex-positiven Sinn ist heute der KitKatClub in Berlin-Mitte. Seinen Namen hat er aus dem Musical „Cabaret“ von 1966 geliehen, das wiederum auf zwei autobiografischen Romanen von Christopher Isherwood beruht, einem Protagonisten der queeren Szene der Zwanziger. Solche Beziehungskisten und Verweisketten lassen sich immer wieder finden, auch wenn sie verschlungener sein mögen als beim Club Anita Berber in Berlin-Wedding, der sich nach einer Tänzerin und Schauspielerin benannte, die bevorzugt unbekleidet auftrat und nicht nur durch ihren Kokain- und Morphiumkonsum für Aufsehen sorgte. Geschwächt durch ihren verschwenderischen Lebenswandel starb sie im November 1928, noch nicht 30-jährig, an Tuberkulose. Ihr Sterbebett stand im Krankenhaus Bethanien, in dessen Gebäude das CTM – Festival for Adventurous Music and Art seit Jahren seine Eröffnung feiert. Der Geschichte entkommt man nicht. Erst recht nicht in einem Trümmerfeld, wie Berlin eines wurde, nachdem die Totengräber der Weimarer Republik die Stadt in die Katastrophe führten.
Anita Berber

Anita Berber

© Ullstein Bild/Getty Images

Let There Be Rave

Auch „Babylon Berlin“ bringt die Politik auf die Tanzfläche. Die zweite Episode kulminiert in einer mehrere Minuten langen Parallelmontage ganz ohne Dialoge. Atemlos, opulent und berauschend inszeniert, angepeitscht von den Trommelwirbeln des Titelsongs der Serie (bezeichnender Titel: „Zu Asche, zu Staub“), offenbaren sich in einer Massenchoreografie im Moka Efti die Abgründe der Charaktere, der Orte des Geschehens, ja, der gesamten Zeit: die Verwicklung aller in sexuelle Spannungen und politische Unruhen, ihren Hunger nach Geld, Macht und Leben.
60 Jahre nach dieser Nacht in „Babylon Berlin“ und 44 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die Friede-Freude-Eierkuchen-Ära ein. Sie begann mit der Rückeroberung einer Amüsiermeile der Zwanzigerjahre: Am 1. Juli 1989 zog die erste Love Parade über den Kurfürstendamm. Als Vergnügung unter freiem Himmel, bei Sonnenschein, mit Pfeifensignalen und einer kreischenden Menschenmasse, offen für alle, die Lust hatten, mit Federboas und Schweißerbrillen neben Halbnackten zu dieser neuen Maschinenstampfmusik aus dem Norden der USA zu tanzen.
Vier Monate später fiel die Mauer. Die Berlingeschichte, an der wir vielleicht noch zu nah dran sind, um sie ganz ohne Verklärung zu erzählen, geht seither so: Nach der friedlichen Revolution und dem Ende der DDR-Diktatur folgt die große Techno-Demokratisierung. Und eine neue kulturelle Blüte. Fest steht: Die immensen Räume und Möglichkeiten, die sich plötzlich in den Brachen mitten in der Stadt und in ihrem Osten eröffneten, sind Stoff für eine eigene Geschichtsstunde. Von diesem Potenzial lebt die Berliner Clubkultur bis heute. Und von den Menschen, die seither mit der Lust auf den Tanz zusammenkommen. Vielleicht sogar ohne Vulkan.
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