Egal ob als Elquaria im Stream oder als Sam IRL: Sie bleibt bei sich.
© Romina Amato
Games

Die Freiheit, ich zu sein

Elquaria, 26, zählt zu den spannendsten Twitch-Streamerinnen der Schweiz. Sie zockt, chillt und quatscht mit ihren 83 000 Fans wie eine Freundin. Den grössten Sieg feierte sie aber schon viel früher.
Autor: Pauline Krätzig
9 min readPublished on

Prolog

Zoom auf ein Dörfli in der ländlichen Schweiz. Vorbei an einer Koppel mit Pferden, einer gescheckten Kuh und einem lebensgrossen gelb-grünen Plastik-Ziegenbock. Begleitet von Vogelgezwitscher, Rasenmähersurren und Stall-Odeur. Im letzten Haus, kurz vor Feldern und Wäldern und Wildnis, lebt Sam – eine der spannendsten Twitch-Streamerinnen der Next Gen.

Kapitel 1: Wie alles begann

«Ich habe früh zu zocken angefangen», erzählt Sam. Ihre Eltern kommen aus dem Iran. Geboren ist die 26-Jährige in Basel, aufgewachsen «wie ein kleiner Kerl», sagt sie. Ihr Vater wünscht sich nach der ersten Tochter einen Sohn. «Und dann kam ich! Ich will mich nicht beschweren. Er hat mir mit fünf oder sechs eine PlayStation geschenkt und mir damit die Gaming-Welt freigeschaltet.» Man kann sich Sam heute nur noch schwer als kleinen Kerl vorstellen, dafür gut, warum die Parallelwelten in der Spiel­konsole sie ­damals magisch anzogen.
Sam hat sich mit ihrer authentischen Art eine treue Community aufgebaut.

Sam hat sich mit ihrer authentischen Art eine treue Community aufgebaut.

© Romina Amato

Gaming ist eine fantastische Form des Eskapismus. Vor allem durch visuell starke fiktive Realitäten. «Ich liebe Story Games und Dark Fantasy: ‹Witcher›, ‹Assassin’s Creed›, ‹Skyrim› … Man kann darin versinken.» Und die Charaktere können sich frei entfalten. Sam wird streng und konservativ erzogen, in ihrer Kultur werden Frauen öfter mal kontrolliert. «Es hiess immer: Nein, Sam, das gehört sich nicht; nein, Sam, das darfst du nicht.» Viele Verbote für ein Kind, das sich nach Selbstverwirklichung sehnt. «Ich wollte immer etwas Kreatives machen, aber mein Vater meinte: ‹Kunst bringt kein Geld.›» Also macht Sam eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. Und geht langsam ein.

Kapitel 2: Die Vision

«Ich hatte ein geregeltes Einkommen, hab bei meinen Eltern gewohnt, war verlobt … Alles war heile Welt. Aber es war nicht meine Welt. Es hat sich alles so lieblos und eintönig angefühlt. Ich wollte nicht nach den Vorstellungen meiner Eltern und den Wertvorstellungen meiner Kultur leben. Ich wollte meinen Freigeist ausleben.» Bis heute wird Menschen eingeredet, es gebe nur den einen Weg bis zur Rente, Nine-to-Five, Spass dann am Wochenende. Manche gehen ihn ­gerne. Manchen fehlt der Mut, ihn zu verlassen. Manche klettern lieber über den nächsten Zaun und legen sich auf die Blumenwiese dahinter. «Meine grösste Angst war und ist, etwas machen zu müssen, das mich nicht erfüllt.»
Steil nach oben: Sam am Weg zum «Fortnite»-Turnier Red Bull Rift Rulers.

Steil nach oben: Sam am Weg zum «Fortnite»-Turnier Red Bull Rift Rulers.

© Romina Amato

Dem Alltag, der ihr zu eng ist, entkommt Sam mithilfe von Deutschlands wohl bekanntestem You­Tuber: «Gronkh hat mich gerettet.» In der Arbeit hört Sam heimlich Gronkhs «Let’s Play»-Videos – «alle, auch die zwölf Stunden langen» –, die AirPods unter den langen Haaren versteckt. 2019 beginnt Sam als Elquaria auch ihre Gaming-Sessions zu streamen und ihren Spass mit anderen zu teilen. Das Zocken bleibt ein Hobby: PC an, um nach Feierabend abzuschalten. Dann kommt Corona – und aus dem Hobby wird ­rasend schnell ein Business.

Kapitel 3: Der Aufstieg

Die Pandemie hat viele Menschen aus ihrem Alltag gekegelt. «Bei mir war es krass, alles kam auf einmal: Job weg, Auto weg, meine Schwester ging in die USA, ich hatte mich entlobt, mit meinem Vater gestritten und bin ausgezogen.» Sam hat etwas Kämpferisches. Woher sie das hat, weiss sie nicht genau. «Tina Turner hat mich schon als kleines Kind gecatcht.» Die Queen of Rock ’n’ Roll, der Inbegriff der Powerfrau, die ­Ikone der Emanzipation. Sam wirkt eher leise, zurück­haltend, unaufdringlich. Sie ist der Inbegriff des sprichwörtlichen stillen Wassers. Es verlangt enorme Stärke, sich von Krisen nicht kleinkriegen zu lassen, sondern sie im Gegenteil als Neustart anzunehmen.
Twitch ist viel direkter. Man kann sofort mit den Leuten in Kontakt kommen.
Elquaria
«Mit Anfang zwanzig war ich zum ersten Mal frei. Ich konnte das tun, was mein Herz wollte.» Sams Herz will erst mal viel mehr streamen, während sie einen neuen Job sucht. Sie pimpt ihr Set-up und ihre Technik-Skills, fällt zwischendurch auf die Schnauze: «Mein erster PC war eine Empfehlung, aber zum ­Zocken Schrott.» Zum ersten Mal unabhängig, merkt sie: «Ich bin ein Mensch mit eigenem Willen. Ich könnte jetzt theoretisch zum Kühlschrank gehen und ein Ei auf meine Stirn klatschen. Wer will mich aufhalten?» Die Frage müsste eher lauten: Ist sie überhaupt aufzuhalten? In der gut gesättigten Streaming-Szene, in der vorwiegend Männer am Drücker sind, baut eine junge Gamerin namens Elquaria auf einmal beachtlich Momentum auf.
Was unterscheidet sie von den abertausenden Neuanmeldungen, die auf Twitch viral gehen wollen? Sams Timing ist ausgezeichnet. Als sie 2021 fulltime loslegt, droppt die Plattform neue Monetarisierungs-Features mit kleineren Hürden für Neustarter und neue Fun-Formate. Bald kann Sam von den Ein­nah­men leben – weil ihre Fanbase kontinuierlich und rasant wächst. Aktuell folgen ihrem Kanal über 82 000 Menschen. Während dieser Text hier entsteht, sind es wieder tausende mehr. Elquaria steht für eine neue Streaming-Generation. Sie verkörpert mit ihrem ­natürlichen, entspannten, offenen Wesen genau das, wonach viele, vor allem junge Menschen, sich zu­nehmend sehnen: Nähe, Echtheit, Austausch.

Kapitel 4: Eine virtuelle Gesellschaft

«Viele Leute suchen Unterhaltung, Ablenkung, Gesellschaft. So wie ich damals mit Gronkh. Eigentlich zockt er nur und plauscht dabei nett mit seiner Community. Aber mir hat das so viel gegeben. Ich wollte auch so viele Menschen berühren und bewegen», sagt Sam. Anders als Gronkh wählt sie dazu als Plattform nicht YouTube, sondern Twitch. «Twitch ist viel direkter. Man kann sofort mit den Leuten in Kontakt kommen.» Tatsächlich hat sich das Videoportal genau deshalb zu einer der grössten und beliebtesten Live-Streaming-Plattformen weltweit entwickelt. Just Chatting ist neben Let’s Play der erfolgreichste Content.
Sams Balance: Sie braucht Ruhe, um ihre Community wieder mitzureissen.

Sams Balance: Sie braucht Ruhe, um ihre Community wieder mitzureissen.

© Romina Amato

Die Mehrheit der Nutzer auf Twitch ist zwischen 14 und 29 Jahre alt – Gen Z. Über die Digital Natives liest man immer wieder: Sie sind so vernetzt wie nie zuvor, doch Einsamkeit ist ein grosses Problem. «Ich selbst habe die Kunst gemeistert, allein zu sein, ohne mich einsam zu fühlen. Aber ich bin eine introvertierte Person. Gerade deshalb verstehe ich, warum Twitch so gut ankommt.» Sam wohnt auf dem Land, im zweiten Stock, zwischen einer 70-jährigen Dame, deren Enkel Elquaria erkennen, und einer Familie, deren Kinder noch zu jung zum Zocken sind. «Ich mag diese ruhige Ecke, wo nicht so viel Tumult ist, ich muss niemandem begegnen, wenn ich rausgehe. Nicht weil ich berühmt bin, sondern ich mag generell nicht so viel Kontakt mit Menschen.»
Introvertierte Menschen ziehen ihre Energie aus Ruhe und Alleinsein. «Wenn ich von einem Event heimkomme, bin ich richtig leer und muss meine social battery wieder aufladen.» Auf Twitch finden diese Menschen trotzdem Anschluss und Austausch. Elquarias Kanal ­gelingt diese Königsdisziplin sozialer Netzwerke.

Kapitel 5: Die Freundin der Nacht

Immer mehr Twitch-Newcomer besetzen neben den grossen Kanälen bekannter Streamer diverse Nischen – mit Indie-Games, Nerd-Wissen, Special-Interest-Content. Sams Twitch-Kanal ist ein Safe Place für ihre Community. Ein Content-Mix aus intensiven Let’s-Play-Sessions, Just-Chatting‑Streams und kleineren Formaten. «Ich würde mich als Variety-Streamerin bezeichnen. Von allem gibt’s etwas. Heute Abend mache ich ein E-Date, morgen eine Quizshow …» Sams voller Vorname ist ihr Streaming-­Programm: Samira kommt aus dem Arabischen und bedeutet «Freundin der Nacht» und «die nächtliche Unterhalterin/Gesprächspartnerin». «Ich rede eigentlich ohne Unterbrechung, während ich streame. Und ich gehe gerne nachts live, von 22 Uhr bis zum Morgengrauen. Ich würde das keinem raten, aber ich war immer ultranachtaktiv, ich enjoye das einfach viel mehr. Nichts stört, nichts geht ab, Handy, Nachrichten, die ganze Welt ist still. Und es gibt echt viele Leute, die nachts wach sind, weil sie arbeiten müssen oder nicht schlafen können.»
Ich habe die Kunst gemeistert, allein zu sein, ohne mich einsam zu fühlen.
Elquaria
Kein Wunder, dass Sam untertags oft müde ist. «Ich bin eine kleine Schlaftablette», sagt sie. Sams Follower sind aber kein passives Publikum. Via Chat können sie jederzeit in Echtzeit zu Wort kommen – und neue echte Freunde finden. Sam und andere Creators mit starker Communitybindung schaffen es, die digitale mit der realen Welt zu verknüpfen. «Wenn Leute sich im Chat austauschen, dann im ­Discord – das ist so eine Art WhatsApp für PC – ­weiterschreiben und sich in der realen Welt treffen und Freundschaften schliessen, das macht mich so glücklich.» Genau so hat Sam ihre beste Freundin Rose kennengelernt, die auch Twitch-Streamerin (Rosemondy) ist.

Kapitel 6: Vom Sich-finden und Nicht-verlieren

Klischee-Schublade auf: Man stellt sich Gamer ja oft wie freundlose, beinwippende ADHSler vor, die zwischen mit Essen verkrusteten Tellern in einem dunklen Keller hausen und ihren Screen beschimpfen. Sam sitzt beim Zocken auf einem weissen Gaming-Stuhl zwischen dem Bild «Die Geburt der Venus» von Sandro Botticelli, einem japanischen Shiba-Inu-Plüschtier, diversen Geralt-­Figuren (aus «The Witcher») und Kissen mit Bildern ihrer verstorbenen ­Chihuahuas. Jeder Raum ihrer Wohnung ist minimalistisch eingerichtet, clean, gemütlich, in neutralen Weiss-, Beige-, Cremetönen. Überall stehen Kerzen und Raumdüfte – Vanille, ­Zitrus, Lotus. Es ist hell, unaufgeregt, aufgeräumt. Ein Spiegel der Seele ­dieser jungen Frau, die gerade im Schneidersitz auf ihrer Couch im Wohnzimmer hockt. Sam ist ganz entspannt, ganz bei sich.
Sam steht für eine neue Streaming-Generation: Nähe, Echtheit, Austausch.

Sam steht für eine neue Streaming-Generation: Nähe, Echtheit, Austausch.

© Romina Amato

Während sie erzählt, spielt auf dem grossen Flatscreen leise der Soundtrack von «The Witcher 3». «Wenn ich nichts im Hintergrund laufen lasse, komme ich ins Overthinking.» Kein Wunder. Sam ist sehr selbstreflektiert. «Man muss sich die Fragen selbst stellen, bevor andere es tun. Ich mache das ständig. Ich glaube, gerade weil ich selbständig bin und viel mit mir allein, muss ich mich mit mir auseinander­setzen. Manchmal hilft mir dabei auch ChatGPT. Ich frage: Was wäre wichtig für meine Persönlichkeitsentwicklung? Dann kommt so was wie: Wer bin ich, wenn mir niemand zusieht? Oder: Welchen Teil verstecke ich bei anderen?» Diese letzte Frage beant­wortet sie auch gleich: «Ich glaube, ich bin schon immer derselbe Mensch. Auch im Stream.
Ich sage immer: Füsse am Boden, Blick Richtung Sterne. Und da ist noch Luft nach oben.
Elquaria
Ich rede viel, auch über Persönliches, aber nicht zu privat. Du musst ­online ja nicht komplett die Hose runterlassen. Wenn man in Boxershorts streamt, wird man auf Twitch eh gebannt.»

Epilog

«Als Gamerin muss ich mir oft anhören: ‹Frauen können nicht zocken›, oder letztens schrieb wieder einer: ‹Die gucken dir alle eh nur zu, weil du hübsch bist.› Früher haben mich solche Sätze echt verletzt. Ich habe das noch an die kleine Sam rangelassen. Aber ich bin mental viel stärker geworden. Heute denke ich mir nur: ‹Awww, der hat mich hübsch genannt.›» Menschen seien meistens fies, weil sie selbst nicht ­erfüllt sind. Ausserdem seien solche Hate-Nachrichten meistens nur Vorurteile. «Das ist selten Kritik an meiner Person. Irgend so ein Jürgen beleidigt mich – ­Leute, die sich vorher gar nicht mit mir auseinandergesetzt haben. Warum sollte ich das also persönlich nehmen?» Klischee-Schublade zu.
Sam zählt zu den aufstrebenden Artists der Creator-Szene. 2024 war sie «Streamerin of the Year Top 3» bei den EarlyGame Awards. Sam will mehr. «Ich sage immer: Füsse am Boden, Blick Richtung Sterne. Und da ist noch Luft nach oben.» In der Notizen-App auf ihrem Smartphone hat sie eine ganze Liste an Träumen. «So hab ich meine Ziele immer ­dabei und vor Augen. Das spornt mich an.» Eines davon, neben «Podcast starten» und «Synchronsprecherrolle in einem Game landen», ist: «Ich will die grösste Streamerin der Schweiz werden und eine der Top fünf in Deutschland.» Sie sagt das nicht verbissen, eher so, als würde sie jemandem freundlich den richtigen Weg weisen. Und obwohl Sam noch oft nachts in ­einer Nische Games zockt, die nicht mehr gefragt sind, traut man es ihr zweifelsfrei zu.
Sie sich auch: «Gerade wenn du weisst, was dich erfüllt oder was du nicht willst, weisst du auch, was deine Ziele sind. Ich habe Vertrauen in mich.»